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DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
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die Seite drehte und hinaus in die monderhellte Dunkelheit vor meinem Unterschlupf starrte, während mir Tränen übers Gesicht rannen und die letzten Nachwehen des Schmerzes durch meine Arme krochen.
    Dort draußen, in der mondbeschienenen Nacht, sah ich die Welt aus Gräue, Röte und Wind. Was immer an jenem Nachmittag am Siel geschehen war, was immer mich tiefer in das Grau gedrängt hatte – es hatte diese Anfälle hervorgerufen. Ich war zu tief vorgedrungen und so weit unter die graue Oberfläche des Flusses getaucht, dass ich beinahe ertrunken wäre.
    Ich schloss die Augen, zog die Beine an den Leib und machte mich so klein ich konnte, obwohl mir dabei jeder Muskel schmerzte. Noch nie hatte ich mich so ausgezehrt gefühlt.
    Ich atmete langsam und vorsichtig, während ich einem Schlaf der Erschöpfung entgegenglitt. Mein letzter bewusster Gedanke war, dass ich in Zukunft vorsichtiger sein musste, wenn ich den Fluss nutzte, die graue und rote, windige Welt.
    Ich wollte nicht ertrinken.

    Am nächsten Tag bezog ich in der Nähe der Gasse Stellung, wo ich den falkengesichtigen Mann gesehen hatte. Ehe ich mich niederließ, hielt ich Ausschau nach dem Kerl mit dem Handkarren und dem Jungen an der Schwelle zum Mann.
    Ich runzelte die Stirn. Nein, er war kein Junge mehr. Das hatte ich gestern in seinen Augen gesehen.
    Ich schüttelte mich, spürte, wie mich ein Rest von Schwäche durchlief, und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die Menge. Weder der Karrenbesitzer noch der junge Mann mit dem Muttermal waren zu sehen.
    Ich runzelte die Stirn, als ich daran dachte, wie seine Augen sich zu Schlitzen verengt hatten, als er mich mit dem Sack gesehen hatte, und wie schwarz diese Augen geworden waren …
    Kein Muttermal. Ein Blutmal.
    »Varis und Blutmal«, sagte ich laut und verzog das Gesicht.
    Blutmal war nirgends zu sehen. Ebenso wenig der falkengesichtige Mann.
    Seufzend setzte ich mich an die Mauer der Gasse, um zu warten.
    Der Falkengesichtige erschien erst kurz vor Anbruch der Abenddämmerung. Ich hatte zwei fade Äpfel, eine steinharte Kartoffel und einen Laib trockenes Brot erbeutet, als ich ihn auf mich zukommen sah.
    Verstohlen zog ich mich in die Gasse zurück und beobachtete, wie er daran vorbeilief, den Blick auf die Menschen auf dem Siel gerichtet. Die Lippen zusammengekniffen, huschten seine Augen flink von Gesicht zu Gesicht. Während er sich voranbewegte, zuckten die Wangenmuskeln in seinem scharf geschnittenen Gesicht. Seine Kleidung war fein geschneidert, jedoch ausgebleicht und fleckig vom Aufenthalt in den Sümpfen der Stadt. Seine Stiefel waren schlammverschmiert.
    An seinem Gürtel steckte ein Dolch, der Griff gekrümmt wie ein Bogen.
    Kurz bevor er die Mündung der Gasse hinter sich ließ, blickte ich noch einmal eindringlich in sein Gesicht und prägte es mir ein – die leichten Pockennarben auf den Wangen, die Linien um die Mundwinkel und die Augen. Dann schlich ich bis zur Ecke vor, um dem Mann zu folgen.
    Wie am Abend zuvor blieb er an der Gasseneinmündung stehen und suchte die Menge ab. Nach einer Weile wurde mir klar, dass er wartete – auf irgendjemanden oder auf den Einbruch der Dunkelheit oder einfach nur auf den richtigen Augenblick. Dann schaute er zum wolkenlosen, sich nun rasch verdunkelnden Himmel empor, ehe er in der Gasse verschwand.
    Ich harrte fünf Atemzüge lang aus. Dann holte ich tief Luft, wappnete mich und folgte ihm.
    Das Tageslicht schwand, als der Falkengesichtige immer weiter in die Tiefen jenseits des Siels vordrang. Ich blieb ihm dicht genug auf den Fersen, dass ich anfangs seinen Dolch erkennen konnte, ließ jedoch ausreichend Abstand, dass ich ziemlich sicher sein konnte, nicht von ihm bemerkt zu werden. Der Siel veränderte sich, je weiter wir kamen. Die verwitterten Lehmziegel wichen bemoostem, bröckeligem Stein. Der Geruch von Feuchtigkeit, Schimmel und Urin, der durch jede Gasse wogte, verdichtete sich zu einem ekelerregenden Gestank nach modrigem Schleim und Kot. Das Wasser, das durch die Gosse rann, wurde zu schwarzem Schlamm. In Ecken und Nischen türmte sich verrottender Unrat.
    Zweimal blieb der Mann stehen und schaute zurück. Ich drückte mich gegen die schlammverschmierte Mauer und erstarrte. Beide Male stand der Mann stumm da, das Gesicht von der Dunkelheit der Nacht verborgen, nur geisterhaft vom bleichen Mondlicht erhellt. Ich hielt den Atem an, denn ich wusste, dass ich mittlerweile nur noch dem Umriss des Mannes folgte, den ich auf dem Siel

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