DIE ASSASSINE
wandte mich von Garrells Leiche ab und blickte hinauf zum Blau des Himmels, zum Sonnenlicht, das es irgendwie niebis in die Tiefen dieser stinkenden Gassen schaffte, nie die Nischen mit den verrottenden Leichen oder die Wohnungen der Lebenden erreichte. Ich blickte zum Himmel empor, während mir Tränen in den Augen brannten, wobei ich an den ersten Mann dachte, den ich getötet hatte – jenen Mann, der Gardist gewesen war und dessen Dolch ich nun bei mir trug.
Nach einer Weile ließ ich den Tränen freien Lauf. Es waren keine Tränen verzweifelter Trauer. Sie galten nicht dem ehemaligen Gardisten, der versucht hatte, mich zu vergewaltigen. Sie galten auch nicht Garrell. Diese Tränen galten dem Mädchen, dessen Leichnam in dem verwüsteten Zimmer lag, die Arme schlaff über dem Kopf. Und sie galten auch dem Mädchen, das ich einst gewesen war.
Ich starrte immer noch zum Himmel, als ich hinter mir in der Gasse ein Rascheln hörte.
Den Dolch stoßbereit, drehte ich mich auf den Knien herum. Zuerst, noch vom Himmel geblendet, sah ich nur Dunkelheit. Dann jedoch zeichnete sich eine Gestalt ab, die dicht an einer Mauer kauerte.
Die Gestalt war zu weit entfernt, um ihr Gesicht zu erkennen. Sie war bloß ein dunkler Schemen. Wer immer es war – ehe ich mich nähern konnte, bog die Gestalt ab und verschwand in der Dunkelheit. Das Geräusch flüchtender Schritte verhallte in der Stille der Gasse.
Plötzlich dachte ich an das Mädchen und erhob mich. Ich ließ Garrell zurück und rannte zu dem Zimmer. Über das, was ich getan hatte – und darüber, wie leicht es mir gefallen war –, wollte ich nicht nachdenken. Ich wollte überhaupt nicht an Garrell denken.
Also richtete ich meine Aufmerksamkeit auf das Mädchen.
Ich verbarg den Dolch unter meinen Kleidern, kniete mich hin und zog behutsam das behelfsmäßige Kleid des Mädchens nach unten, verhüllte das Blut und die Spritzer zwischen den Beinen. Die Kordel, die als Gürtel gedient hatte, war verschwunden,achtlos weggeworfen. Ich nahm den Körper des Mädchens auf die Arme, hielt ihn unter dem Hals und unter den Knien. Der Kopf pendelte haltlos, und ich hatte Mühe, nicht zu schluchzen. Ich verlagerte die Arme des Mädchens so, dass sie am Körper anlagen. Dann stand ich auf.
Das Kind fühlte sich gewichtslos an, wie ein Bündel Kleider ohne Inhalt, schlaff und leer und nutzlos.
Es war die grauenhafteste Empfindung meines Lebens.
Ich fand die Mutter des Mädchens dort vor, wo ich sie zuletzt gesehen hatte. Sie war in der Mitte der Decke auf die Knie gesunken. Ihr Gesicht wirkte leer, doch ihre Blicke zuckten unablässig zwischen den Vorübereilenden in der Menge hin und her, hielten Ausschau nach ihrer Tochter. Mich hatte sie noch nicht gesehen. Als ich mich von hinten näherte, zog sie die Schultern hoch, ruckartig vor stummem Schluchzen, während ihre Hände ihr Gesicht bedeckten. Das grüne Tuch hatte sie sich durch die Finger einer Hand geschlungen.
Ich kniete mich neben sie.
Sofort ließ sie die Hände sinken und zuckte von mir weg, mit panischer Miene, die Arme wie zur Verteidigung erhoben. Sie schrie etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand.
Ich rührte mich nicht.
Und da erkannte sie, was ich in den Armen hielt.
Es dauerte einen Herzschlag, dann kreischte sie. Es war ein schrilles Kreischen, aus dem unsägliches Leid sprach; ein Laut, der den Lärm des Siels übertönte und die Vorbeiziehenden entsetzt zurücktaumeln ließ. Doch davon bemerkte sie nichts. Ihre zitternden Hände bewegten sich wieder zu ihrem Gesicht, verharrten dicht davor, als wagte sie es nicht, sich zu berühren. Dann streckte sie zaghaft die Arme aus, zog ihre Tochter an sich, drückte sie an ihre Brust. Eine Hand hielt den Hinterkopf des Mädchens an ihrer Schulter, die andere stützte den Rücken. Denn beugte sie sich über ihre Tochter und schluchzte. Das blaue Farbmal in der Nähe des Augenwinkels trat im Sonnenlichtdeutlich hervor, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein Schmerz, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte.
Ich flüchtete zurück in die Tiefen jenseits des Siels, in die Gassen und verborgenen Räume. Es war mir egal, wohin mein Weg mich führte. Ich wollte nur weg von dem toten Mädchen, weg von dem verzweifelten Ausdruck im Gesicht der Mutter, weg vom Gefühl der Gewichtslosigkeit. Ich blieb in Bewegung, wobei meine Tränen allmählich versiegten. Ich war zu erschöpft, um zu weinen.
Irgendwann erkannte ich, dass ich auf den Nymphenbrunnen zuhielt.
Die
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