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DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
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Brotscheiben wusste, die der mehlweiße Mann unter den Stein vor der Tür legte, wenn ich ein Stück Leinen dort zurückließ … was ich in letzter Zeit immer öfter tun musste. Die Elendsviertel füllten sich zunehmend, das Essen wurde knapper. Die Menschen waren weniger arglos, waren vorsichtiger geworden. Ohne Erick und den mehlweißen Mann …
    Ich stand auf und erschreckte Blutmal damit so sehr, dass er sich mit einer Hand abstützen musste. Seine Augen blitzten, und seine Miene wurde düster. Ich verspürte einen kurzen Anflug von Genugtuung.
    »Was ich beobachte, willst du wissen?«, ging ich auf seine Frage eine. »Nichts. Gar nichts.«
    Plötzlich wollte ich ihn nicht einmal in der Nähe vom Haus des mehlweißen Mannes haben. Ich drehte mich um, zog mich in die Gasse zurück, ließ den leeren Eingang des Hauses und Blutmal hinter mir zurück. Am Ende der Gasse hielt ich inne und schaute über die Schulter.
    Blutmal kauerte immer noch in der Nähe der Gassenmündung und hatte den Blick auf die leere Tür des Hauses vom mehlweißen Mann geheftet. Selbst aus der Entfernung sah ich seine nachdenkliche Miene und den abwägenden Ausdruck in seinen schmalen Augen.
    Die frostige Hand an meiner Brust packte schmerzhaft zu; dann fiel sie von mir ab, als Blutmal sich auf mich zubewegte. Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, und mit hänselnder Stimme, die in der Gasse eigenartig widerhallte, fragte er: »Sollen wir morgen den plattnasigen Mann jagen, Varis?« Dann, mit dunklerer Stimme: »Ja. Ja, ich denke, das sollten wir tun.«

    Am nächsten Tag sah ich Blutmal zwei Mal. Jedes Mal stand er mit dem Rücken an einer Mauer auf der gegenüberliegenden Seite des Siels, die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Muttermal stach im Sonnenlicht leuchtend rot hervor. Jedes Mal grinste er und nickte mir zu. Dann stieß er sich von der Mauer ab, tauchte ein in den Strom der Menge und bog mit einem Blick zurück in die nächste Gasse.
    Wieder verspürte ich den Druck der kalten Hand an meiner Brust; wieder wurde mir die Kehle eng. Doch ich verdrängte diese Empfindungen und achtete stattdessen auf irgendwelche losen Bündel, auf einen vergessenen Sack oder einen Wagen mit Lebensmitteln, denn ich konnte mir nicht erlauben, auch nur einen Apfel oder eine einzige Kartoffel zu übersehen. Nicht jetzt.
    Außerdem hielt ich nach Tomas Ausschau.
    Gegen Mittag rollte ein tiefes Grollen über den Himmel, und die Menschen hielten einen Augenblick inne und schauten empor.
    Eine dräuende schwarze Wolkenbank zog aus dem Westen heran. Noch während ich hinschaute, schob der Rand sich vor die Sonne.
    Das Licht veränderte sich, wurde grau. Als ich den Blick wieder auf den Siel richtete, bewegten die Leute sich schneller, mit eingezogenen Schultern, ihre Bündel dicht an sich gedrückt. Auf ihren Gesichtern rang Verzweiflung mit Schicksalsergebenheit.
    Ich seufzte. So viel zu dem Vorhaben, etwas zu essen aufzutreiben.
    Während das Licht weiter schwand, ließ ich den Blick prüfend über die Menschenmenge schweifen, die allmählich dünner wurde, konnte Blutmal jedoch nicht entdecken. Mit einem letzten Blick zum Himmel bog ich in eine Nebenstraße, drang weiter in die Tiefen jenseits des Siels vor und hielt auf die Gasse zu, in der ich Tomas zuvor gesehen hatte.
    Als ich mich dort neben einen Haufen zerbröckelter Steine kauerte, setzte Regen ein. Anfangs heftig, dann schwächer, als der Rand der Unterwetterfront sich über die Stadt hinweggeschoben hatte und Fetzen hellerer Wolken hinter sich her zog. Ich ließ mir das Regenwasser übers Gesicht laufen, spürte, wie es mir die Haare an den Hals und die Kleider an den Leib klebte. Das schlammige Rinnsal, das die Mitte der Gasse hinunterrann, schwoll zu einem Bach an.
    Ich blickte suchend durch die Gasse; dann zog ich mich an die glitschige Lehmziegelmauer hinter mir zurück und entspannte mich.
    Und wartete.
    Ein paar Stunden später hörte ich ein Stück Ziegel übers Kopfsteinpflaster schrammen. Ich hob den Kopf und spähte die Gasse hinunter, wobei ich durch die nassen Strähnen meines Haares blickte, die mir ins Gesicht hingen und von denen das Wasser tropfte. Doch die Gasse war menschenleer.
    Ich spielte mit dem Gedanken, in den Fluss zu tauchen. Nicht tief, nur unter die Oberfläche. Doch Erschöpfung und Müdigkeit hatten sich in meinem Körper eingenistet, zurückzuführen auf den Schlafmangel in der Nacht zuvor und auf das beständige Warten. So wechselte ich stattdessen die

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