DIE ASSASSINE
irgendetwas tun müssen. Stattdessen war er einfach weggegangen. Ich musste den Grund dafür herausfinden.
Irgendetwas regte sich in der Nähe des Brunnens, die leichte Bewegung eines Schattens. Sofort blickte ich in die Richtung, sah aber nichts.
Ich wollte gerade in den Fluss tauchen, als Erick aus der Dunkelheit einer Gasse trat.
Verbitterung erfasste mich. Ich griff nach meinem Dolch, hielt dann aber inne. Meine Hand zitterte, doch ich versuchte, dem keine Beachtung zu schenken.
Erick ging zum Brunnen und blickte zum geneigten Haupt der Frauenstatue hinauf. Im schwindenden Licht konnte ich seine Züge deutlich erkennen. Der Ausdruck seiner Augen war bekümmert, die Haut um seinen Mund verkniffen vor Sorge und Zweifeln. Lange Zeit musterte er das Antlitz der steinernen Frau und wandte sich dann seufzend ab, immer noch besorgt. Dann schritt er über das Kopfsteinpflaster langsam um den Brunnen herum, wieder und wieder.
Er wartete.
Auf mich. Oder Blutmal.
Ich war unentschlossen, was ich tun sollte. Die Verbitterung hatte sich ein wenig gelegt; sie war zwar noch da, aber nicht mehr so stark. Zu der Wut in meinem Bauch hatte sich auch Unbehagen gesellt. Ericks Gesicht hatte zu offen gewirkt, zu … ungeschützt.
Plötzlich fühlte mein Hiersein sich falsch an, wie ein Verrat an Ericks Vertrauen.
Dennoch rührte ich mich nicht.
Die Dämmerung brach an, und bald wurde es Nacht.
Meine Beine waren verkrampft, als Erick seine unruhige Wanderung endlich beendete. Kurz blickte er zum dunkelnden Himmel, an dem schwach die ersten Sterne erschienen und der Mond stand; dann hielt er mit steten Schritten auf den Siel zu. Er versuchte gar nicht erst, sich zu verstecken.
Ich wartete und spürte, wie mein Herz einen Schlag aussetzte. Ich verfluchte mich für mein Zögern – verfluchte die Verbitterung, verfluchte Blutmal und das Gefühl, dass dies hier falsch schien.
Und dann folgte ich Erick.
Ich hielt mich so weit hinter ihm, dass ich seine Gestalt im bleichen Mondlicht, das in die Gassen fiel, nur als Schatten erkennen konnte. Er bewegte sich geradewegs auf den Siel zu, bog jedoch ab, ehe er ihn erreichte, und setzte den Weg parallel dazu über Seitenstraßen und Gassen fort.
Immer weiter entfernte er sich von den Elendsvierteln in Richtung der Brücke, die über den Fluss in die eigentliche Stadt führte. Die Gebäude veränderten sich. Hier übersäten keine zerbröckelten Lehmziegel mehr die Gassen, und das Kopfsteinpflaster war größtenteils unversehrt. Kerzenlicht tauchte hinter ein paar Fenstern auf, schimmerte hinter Ritzen im Holz der geschlossenen Läden.
Mein Unbehagen wuchs. Wir entfernten uns von den Elendsvierteln. Die Nebenstraßen und Gassen – die Gebäude selbst – waren mir nicht mehr vertraut.
Erick blieb nur einmal kurz stehen und drehte sich halb um. Ich ging hinter den Überresten eines zerbrochenen Fasses in Deckung. Mit angehaltenem Atem wartete ich darauf, dass er sich wieder umdrehte oder mich in den Schatten erspähte und voller Enttäuschung auf mich herunterblickte. Mein Magen verkrampfte sich …
Doch nach einem Augenblick ging er weiter.
Ein paar Straßen später bog er ab. Als ich bis zum Ende derGasse schlich und um die Ecke spähte, erblickte ich den Bogen der Brücke, sah das Mondlicht, das sich im Fluss spiegelte, hörte das Schwappen des Wassers gegen den Steinkanal.
Und auf dem gegenüberliegenden Ufer lag Amenkor … das wahre Amenkor.
Ich blickte auf die Gebäude und stellte seltsam enttäuscht fest, dass sie nicht anders wirkten als die Bauten, die mich gerade umgaben. Aber sie waren ganz anders als die Häuser in den Elendsvierteln. Diese Gebäude waren nicht halb verfallen; sie bestanden nicht aus Stein, der nach Jahrzehnten der Verwahrlosung zerbröckelte. Diese Gebäude hatten noch Ecken und Kanten.
»Wer ist da?«
Ich erstarrte, dann huschte ich in die Schatten zurück. Doch die raue Stimme hatte nicht mir, sondern Erick zugerufen.
»Ich bin’s, du alter Penner«, knurrte Erick mit hörbarer Belustigung.
Zwei Wächter standen mit gezückten Piken am Ende der Brücke. Einer der beiden zog seine Waffe zurück und grunzte. »Das ist Erick«, sagte er zu dem zweiten Wächter. »Der Sucher.«
Der zweite, jüngere Wächter entspannte sich und wich ein paar Schritte zurück, als Erick sich ihm näherte. Beide Wächter trugen Hemden, auf die in Gold gestickte Throne zu sehen waren, und sie waren schwerer bewaffnet als jeder Gardist, den ich je in den
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