DIE ASSASSINE
fielen.
Ich dachte, ich wäre entkommen, als ich mich in eine Gasse auf der gegenüberliegenden Seite des Siels zurückzog. Ich dachte, ich wäre nicht gesehen worden, doch als ich mich umdrehte, um mich zu vergewissern …
Der Mann beugte sich besorgt über die Frau. Nach einem Augenblick argwöhnischen Zögerns ließ sie sich von ihm auf die Beine helfen. Als sie nach ihrem Bündel griff, kniete der Mannsich hin und sammelte die herausgefallenen Brötchen ein. Die Frau tat es ihm gleich.
Der Mann runzelte die Stirn. Suchend blickte er über den Boden, als die Frau das letzte Brötchen im Bündel verstaute und dieses zuschnürte.
Er wandte sich der Dunkelheit zu, in der ich mich verbarg, und sah mir genau in die Augen.
Ich weiß nicht, was er sah. Ein schlammverschmiertes Mädchen, das sich gegen die Mauer presste und zwei Brötchen an die Brust drückte. Das auf jeden Fall. Aber er muss noch mehr gesehen haben, etwas anderes, denn sein Stirnrunzeln verschwand. Er kauerte sich auf die Fußballen und ließ die Hände zwischen den Knien baumeln.
Was ist? , fragte die Frau.
Der Mann sah mich immer noch an, bis auch die Frau in meine Richtung blickte.
Nichts , erwiderte der Mann und stand auf.
Und bevor die Frau mit dem glatten schwarzen Haar und den sanften braunen Augen mich entdecken konnte, berührte er sie am Arm und lenkte sie ab.
Ich flüchtete. Ich rannte weit – viel weiter, als ich vorgehabt hatte. Wegen des Mannes mit der mehlweißen Kleidung. Wegen des sanften Ausdrucks, der in seinen Augen gelegen hatte. Weil er sich entspannt auf die Fußballen gekauert und die Hände hatte baumeln lassen, statt mich zu verfolgen und aufzuhalten.
Ich aß die Brötchen. Dabei weinte ich und konnte nicht verstehen, weshalb.
Am nächsten Tag und am Tag darauf folgte ich ihm. Und schließlich begann er, Brot unter dem Stein vor seiner Tür zurückzulassen, wenn ich das Leinen zurückbrachte, in das er das Brot eingewickelt hatte.
Ein Schatten trat in das Licht, das durch die Tür des mehlweißen Mannes fiel. Ich schaute auf und sah in die Augen des mehlweißen Mannes – mittlerweile älter, gezeichnet von Schmerzund Erschöpfung. Grau durchzog sein Haar, Runzeln säumten seine Augen- und Mundwinkel und furchten seine Stirn.
Aber das sah ich nur am Rande.
Denn vor allem sah ich seine Augen. Ich sah sie, wie sie an jenem Tag auf dem Siel gewesen waren. Ich sah, wie ihr Blick sanft wurde, als er ein Mädchen anschaute, das sich gegen die Lehmziegelmauer einer Gasse drückte.
Tränen brannten mir in den Augen. Tränen der Schande, der Not und des Hungers. Aber nicht des Hungers nach Brot oder Käse, sondern nach etwas anderem.
In den Tiefen des Hauses, in dem der mehlweiße Mann wohnte, hörte ich ein Geräusch. Dann kam die schwarzhaarige Frau in Sicht.
Sie hielt eine lange Brotkelle aus Holz vor sich, verkohlt und rußig. Teig lag auf dem vorderen Ende der Kelle und wartete darauf, in den Ofen geschoben zu werden.
»Was ist?«, fragte die Frau.
Wie vor so langer Zeit auf dem Siel erstarrte ich und blickte dem mehlweißen Mann in die Augen.
Er begegnete meinem Blick. Dann lächelte er.
»Nichts ist«, sagte er.
Etwas – Schmerz, Trauer – stieg tief aus meiner Brust empor und wurde zu einem Schluchzen, so sehr ich mich auch dagegen wehrte; es war zu stark, zu groß. Tränen liefen mir übers Gesicht, und ich schloss die Augen, während ich schluchzte, nass und kehlig, wobei ich tief durch die Nase atmete und den Mund zusammenpresste bei dem Versuch, das Schluchzen zurückzuhalten, es gleichsam in mir einzusperren.
Der mehlweiße Mann wartete, bewegte sich nicht.
Der Schmerz – die Qual – verschaffte sich Erleichterung und verebbte dann. Und mit dem Abklingen legte sich das Schluchzen. Mein Atem ging wieder regelmäßiger, tiefer.
Jemand berührte mich sanft im Gesicht, und ich schaute erneut in die Augen des mehlweißen Mannes. Diesmal sah ich dasGrau in seinem Haar, die Falten in seinem Gesicht, die Zeichen des Alters.
Seine Finger strichen von meiner Stirn zum Kinn. Er hob meinen Kopf an und blickte mir tief in die Augen.
Ich spürte, dass ich zitterte, dass ich noch schwach war und feucht vor Tränen. Die Haut in meinem Gesicht fühlte sich straff an, und meine Augen waren wund und brannten.
»Du bist gewachsen«, sagte er.
Wieder brach sich ein Schluchzer Bahn. Es war zu viel.
Und so löste ich mich von ihm, und seine Finger glitten mein Kinn hinunter. Ich stand auf, straffte den Rücken.
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