DIE ASSASSINE
Kartoffeln waren herausgefallen und über den Boden gerollt. Der aufgerissene Sack war hinten am Wagen abgestellt worden.
Als die Frau mit dem schillernden Ohrring sich wieder mir zuwandte, musterte sie mich eingehend. Ihr Blick wanderte über meine Kleider, über mein Haar.
Beides war nicht mehr mit Blut bespritzt. Nachdem ich dem Gardisten über die Nebenstraßen entkommen war, hatte ich mich hinunter zu Amenkors Fluss begeben und mich gründlich gewaschen. Am Siel hatten die Kleider, die ich von Erickhatte, makellos sauber ausgesehen. Doch am Fluss, am Fuße der Treppe, die zu seinen ummauerten Ufern hinunterführte, hatte ich die Flecken gesehen, die ausgefransten Säume und die kleinen Risse.
Nun spürte ich diese Risse, diese Flecken unter dem prüfenden Blick der Frau. Verhaltener Zorn brannte in meiner Brust, und ich kauerte mich auf die Fersen.
»Ich sagte, es geht mir gut«, wiederholte ich ein wenig barsch.
Sie musterte mich verwundert; dann stand sie auf und sagte mit einem Hauch von Kälte in der Stimme: »Na schön.«
Sie entfernte sich, trat zurück auf die Straße, hielt jedoch inne, als sie den Wagen und die Kartoffeln erblickte. Die letzten Säcke waren mittlerweile in das Gebäude getragen worden. Der ältere der beiden Jungen hielt den aufgebrochenen Sack, während der Jüngere die herausgefallenen Kartoffeln von der Straße aufhob. Sie kniffen den Riss zusammen, so gut sie konnten, und trugen auch diesen Sack ins Gebäude.
Die Frau drehte sich wieder zu mir um. »Vielleicht …« Sie zögerte, schien es sich anders zu überlegen und fügte dann hastig hinzu: »Vielleicht solltest du es am Marktplatz versuchen. Oder am Kai. An den Docks könntest du mehr Glück haben.«
Damit überquerte sie die Straße, hielt nur einmal kurz inne, um einen Mann auf einem Pferd vorbeireiten zu lassen.
Eine Zeit lang blickte ich zu der Stelle, an der die Frau verschwunden war. Ich spürte einen dumpfen Schmerz in der Brust, roch einen Lidschlag lang Hefe, fühlte einen Schwall Ofenhitze im Gesicht.
Aber ich rang den Schmerz zurück, erstickte die Gerüche. Der stechende Schmerz war zu einem Pochen abgeklungen, meine Sicht klärte sich allmählich, und die Schwäche fiel von mir ab.
Vorsichtig stand ich auf und ließ den Blick prüfend über die Straße wandern.
Menschen gingen von Laden zu Laden, von Gebäude zuGebäude. Dabei hielten sie an, um sich zu unterhalten, zu scherzen und zu lachen. Glocken bimmelten, als jemand durch eine schmale Tür das Haus neben mir betrat. Der Geruch von Talg drang ins Freie. Doch es war nicht der ölige Talg des Siels. In diesem Talg schwangen seltsame Düfte mit, fremdartige Gerüche, die mir in der Nase kribbelten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite öffnete sich eine Tür, und grölendes Gelächter klang heraus. Der Mann, der das Gebäude verlassen hatte, winkte den anderen im Innern zu.
Nein, hier würde ich mit der Jagd kein Glück haben. Der aufgebrochene Sack mit Kartoffeln war in den letzten zwei Tagen die bestmögliche Beute gewesen, und selbst das wäre zu riskant gewesen. Deshalb hatte ich versucht, den Fluss zu verwenden. Aber dies hier war nicht der Siel. Die Menschen hier mochten zwar nicht wachsam sein, aber sie hatten nichts zu befürchten: Es waren zu wenige; hier gab es keine dicht gedrängten Menschenmassen wie auf dem Siel. Außerdem gab es keine Orte, mit denen ich verschmelzen konnte, und keine dunklen Nischen zum Verstecken.
Und dann waren da noch die Gardisten.
Ich wich tiefer in die Gasse zurück, als zwei von ihnen auf Pferden auftauchten. Wie ihr Kamerad neulich waren auch diese beiden wie Erick gekleidet, jedoch sauberer. Sie saßen steif und aufrecht im Sattel, und ihre Augen …
Als sie vorüberritten, glitt der Blick des einen Gardisten über mich hinweg. Seine Augen glichen denen Ericks, nur waren die Bedrohung und die Düsternis, die sich tief in Ericks Augen verbargen, bei diesem Mann ganz deutlich und offensichtlich. Und er wirkte hochmütig.
Die Augen des Gardisten verengten sich, als hätte er etwas gesehen, das nicht hierher gehörte.
Dann aber waren die beiden am Eingang der Gasse vorüber.
Ich wartete nicht ab, ob sie zurückkehren würden. Stattdessen wich ich in die Schatten zurück und bewegte mich in Richtungdes Hafens. Die letzten Nächte hatte ich in der Nähe des Wassers verbracht. Weil am Ufer wenig Betrieb herrschte, gab es dort ein paar Plätze mehr, wo man sich verstecken konnte. Außerdem konnte ich von
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