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DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
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Mann war Hauptmann Baill.
    Ich unterdrückte einen Fluch und kroch zu der einstigen Schießscharte zurück, um das Geschehen zu beobachten, die Augen vor Wut und Argwohn verengt. Was wollte Baill ausgerechnet jetzt hier? Er sollte irgendwo in der Stadt beschäftigt sein – auf den Mauern, zu Hause im Bett –, nur nicht hier, im inneren Heiligtum des Palasts.
    Es sei denn, jemand hatte ihn gewarnt, hatte ihn auf meine Anwesenheit aufmerksam gemacht. Aber wer?
    Hauptmann Baill trug die Rüstung seines Ranges. Er bewegte sich rasch; seine Augen waren düster vor Zorn. Hass spiegelte sich auf seinem Gesicht. Seine Narben schienen zu glühen. Alte Narben. Verdiente Narben. Sie umgaben dunkle Augen, die rastlos hin und her wanderten, sogar als er ging – berechnende Augen, die alles sahen, sich alles einprägten.
    Zielstrebig hielt er auf die beiden Gardisten zu; dann fragte er herrisch: »Ist hier in der letzten Stunde jemand vorbeigekommen?«
    »Niemand, Hauptmann.«
    »Verflucht!«
    Erschrocken blickten die beiden Gardisten einander an. Baill starrte kurz auf den Steinboden und hob eine Hand, rieb sich über das kahle Haupt.
    Dann schaute er auf. Seine vernarbten Züge waren wie gemeißelt.
    »Kommt mit«, befahl er.
    Einer der Gardisten wollte einen Einwand erheben und deutete auf die Tür, die er mit seinem Gefährten bewachte.
    »Das ist ein Audienzsaal, verdamt noch mal!«, brüllte Baill und kam dem Mann zuvor. »Da drin ist nichts! Wir haben größere Probleme!«
    Damit entfernte er sich rasch in Richtung des Haupteingangs zum inneren Heiligtum – dem Durchgang, der einst ein Außentor gewesen war.
    Die beiden Gardisten zögerten einen Lidschlag lang, ehe sie ihm folgten.
    Dann waren sie verschwunden.

    Ich wich von der Bogenschießscharte zurück. Mein Herz hämmerte wild in meiner Brust. Wusste Baill wirklich, dass ich hier war? War er tatsächlich gewarnt worden?
    Die Angst schlug in Zorn um, und der Geschmack von Übelkeit auf meiner Zunge wurde bitter.
    Hatte Avrell es sich anders überlegt und die Garde gewarnt? Hatte er mich verraten?
    Es erschien mir unwahrscheinlich. Er war derjenige, der mich angeworben hatte. Und er hatte so leidenschaftlich mit Nathem gesprochen, um ihn davon zu überzeugen, dass der Tod der Regentin unerlässlich war.
    Aber wer sonst konnte es gewesen sein? Niemand außer Avrellwusste, dass ich heute Nacht hier war. Er hatte mich in dem Warteraum gesehen, wusste genau, wo ich mich befand …
    Natürlich! Erleichterung erfasste mich. Es war Avrell gewesen. Aber er hatte Baill nicht gewarnt, um mich zu verraten. Er hatte es getan, um mir zu helfen. Avrell kannte den Plan. Er wusste, dass ich in dem Wartezimmer gewesen war, wusste, dass ich hinter dem Zeitplan herhinkte. Er musste geahnt haben, dass ich die Wachablösung verpassen würde.
    Also hatte er für eine Ablenkung der Gardisten gesorgt.
    Entschlossen umfasste meine Hand den Dolchgriff, und ich drehte mich jäh zur Schießscharte zurück, wog die schmale Öffnung ab. Es spielte keine Rolle, ob Avrell den Hauptmann gewarnt hatte, um mir zu helfen, oder ob jemand anders ihn gewarnt hatte, um mich aufzuhalten. Was immer zutreffen mochte – dies würde vielleicht meine einzige Gelegenheit sein, am äußeren Wachkreis der Palastgardisten vorbeizukommen. Und ich musste die Regentin in dieser Nacht erreichen. Es blieb keine Zeit mehr, wenn die Stadt den Winter überleben sollte.
    Ich legte eine Hand an den oberen Rand der Öffnung, griff mit der anderen hindurch und schob Kopf und Schultern nach. Hätte ich Brüste besessen, hätte ich keine Chance gehabt. Meine Knabenfigur war auch der Grund dafür, dass ich als Page durchgehen konnte. Wäre es nicht so gewesen, hätte der Plan, ins innere Heiligtum des Palasts zu gelangen, niemals aufgehen können.
    Ich atmete scharf aus, presste die Luft aus den Lungen und zwängte die Brust durch die Öffnung. Dann hielt ich inne, um mich am Granit besser abzustützen, und atmete ein. Die Scharte drohte mich zu zerquetschen. Ich konnte keinen richtigen Atemzug tun. Schmerzen schossen mir durch die Lungen. Ich keuchte, atmete in kurzen Stößen, blies die Luft wieder aus und drückte, während die Kanten der Scharte über meine Oberschenkel kratzten.
    Einen grässlichen Augenblick lang dachte ich, die Öffnungwäre zu klein und ich inzwischen zu groß. Ich geriet in Panik. Schweiß brach mir aus, ließ meine Handflächen glitschig werden. Ich schob mich weiter, kämpfte gegen den Granit an,

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