DIE ASSASSINE
zieht sich schon zu lange hin. Mir ist egal, wie sehr einige Todesfälle nach einem ›Unfall‹ aussahen. Und mir ist egal, dass wir nichts beweisen können, dass alles nur auf Hörensagen und den Umständen beruht. Baill kann …« Er verstummte, fasste sich mühsam und fragte dann mit schroffer Stimme: »Wie ist Markus gestorben?«
»Man hat ihm den Hals aufgeschnitten, unten an den Docks. Es ist vor ein paar Tagen geschehen. Zumindest hat man ihn da zuletzt gesehen. Man hat ihn heute Morgen im Hafenbecken treibend gefunden. Es sieht aus wie ein weiterer willkürlicher Raubüberfall.«
Borund schnaubte verächtlich. »Das war kein Raubüberfall. Wir alle wissen das. Allmählich glaube ich, sogar Baill weiß es und zieht es lediglich vor, nichts dagegen zu unternehmen, aus welchen Gründen auch immer.« Je länger er hinter dem Schreibtisch saß, desto wütender wurde er. Seine Finger pochten auf das Papier, und seine Blicke zuckten blind von Blatt zu Blatt.
Schließlich ließ er die Handfläche erneut niedersausen und stand auf. »Nein. Es muss enden. Lass Gerrold die Pferde vorbereiten. Wir reiten in die Altstadt.«
»Zur Gilde?«, fragte William auf dem Weg zur Tür.
»Nein. Zum Palast. Diesmal will ich mit der Regentin persönlich reden. Oder zumindest mit Avrell. Wenn es sein muss, sage ich Baill, es geht um eine Angelegenheit der Gilden. Dann wird er mich hereinlassen müssen. Das ist mein Recht als Mitglied der Händlergilde, verdammt noch mal!«
William hielt an der Tür inne, den Rücken vor Schreck versteift; dann aber nickte er und ging wortlos.
»Verzeiht, Meister Borund«, sagte Avrell, der Oberhofmarschall der Regentin, als er durch einen offenen Türbogen den Warteraum betrat, »aber die Regentin empfängt heute niemanden.«
Borund erhob sich aus seinem Sitz zwischen den Kissen, steif vor Verärgerung. William tat es ihm gleich. Ich stand bereits mit dem Rücken an einer Wand, sodass ich den gesamten Raum überblicken konnte. Er war klein. Niedrige Sitze standen darin verteilt, außerdem Kissenhaufen sowie Tische mit Wasserkrügen und Obstschalen. Ein paar Trennwände aus Gitterwerk nahe den Ecken des Raumes teilten Bereiche ab, in denen man sich ungestörter unterhalten konnte.
»Ich verstehe nicht, warum es so lange gedauert hat, bis uns jemand empfängt«, sagte Borund. »Wir warten schon den ganzen Nachmittag auf eine Audienz!«
»Ich weiß. Ich wurde eben erst vom Hofmarschall darüber in Kenntnis gesetzt und bin sogleich gekommen.« Der Oberhofmarschall neigte das Haupt und warf einen gemessenen Blick auf mich.
Einen Lidschlag lang erstarrte er, und seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Dann schien er sich zu fassen. Seine Miene wurde wieder ausdruckslos und verriet nichts.
Ich runzelte die Stirn und spürte ein Kribbeln von Besorgnis auf der Haut. Ich bündelte die Gedanken und tauchte in den Fluss.
Der Oberhofmarschall wirbelte grau und rot. Als ich den Brennpunkt auf Borund verlagerte, verschwand das Rot, und nur noch Grau blieb.
Indes hatte Avrell den Kopf wieder angehoben und betrachtete Borund. Dennoch schien seine Aufmerksamkeit nach wie vor auf mich gerichtet zu sein, als beobachtete er mich und würde mich einzuschätzen versuchen.
Unbehaglich trat ich von einem Fuß auf den anderen. Der Oberhofmarschall trug dunkelblaue Gewänder; ein achtzackiges Sternsymbol in Gold war auf die Brust gestickt. Seine Hände waren in den breiten Ärmeln verschränkt und darin verborgen. Doch er stellte keine Bedrohung für Borund dar und war auch keine unmittelbare Gefahr für mich, wenn ich nach der grau-roten Färbung ging, also entspannte ich mich vorsichtig und prägte mir stattdessen seine dunkelblauen Augen ein, das schwarze Haar, die schwarzen Brauen, die Linien seines Gesichts und seine dunklen Züge. Ich lauschte seiner steten, leisen Stimme und beobachtete ihn. Jede Bewegung wirkte gemessen, durchdacht. Gelegentlich schaute er in meine Richtung. Nicht unmittelbar, aber ausreichend, dass ich mich rührte. Nach einer Weile wurde mir klar, weshalb.
Ich verblasste für ihn nie in den Hintergrund wie fast für jeden, mit dem Borund zu tun hatte. Ich wurde nie grau.
Avrell schien mir erheblich zu viel Aufmerksamkeit zu schenken.
»Ich habe in den letzten Wochen wiederholt versucht, Euch oder die Regentin zu sehen«, erklärte Borund, »wurde bei jedem Versuch aber von Hauptmann Baill abgewiesen. Allmählich glaube ich, die Gerüchte, die sich um die Regentin ranken,
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