Die Attentaeterin
das jeden von uns in seine Ecke bannt.
Nach dem Essen kehrt der alte Yehuda ins Haus zurück, um seine Siesta zu halten, und Kim und ich laufen über den Sand. Von einem Ende des Strandes zum anderen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, mit den Gedanken weit weg. Manchmal kommt eine Welle zu uns herangerollt, leckt uns um die Knöchel und zieht sich still zurück.
Erschöpft und irgendwie doch frisch gestärkt, erklimmen wir eine Düne und warten dort auf den Sonnenuntergang. Die Nacht entzieht uns der Unordnung der Dinge. Das tut uns beiden gut.
Yehuda kommt uns suchen. Wir essen auf der Veranda zu Abend und lauschen dem Meer, das gegen die Felsen brandet. Jedes Mal, wenn der alte Yehuda uns die Geschichte von der Deportation seiner Familie erzählen will, ermahnt ihn Kim, dass er versprochen hat, den Abend nicht zu verderben. Er gibt zu, eingewilligt zu haben, sein erlittenes Schicksal nicht schon wieder zum Thema zu machen, und rutscht auf seinem Stuhl hin und her, leicht verstimmt, dass er seine Erinnerungen für sich behalten muss.
Kim bietet mir oben im Schlafzimmer ein Feldbett an und wählt für sich die Schaumstoffmatratze am Boden. Kurz darauf löschen wir das Licht.
Die ganze Nacht über versuche ich zu verstehen, wie es mit Sihem so weit kommen konnte. Von welchem Moment an begann sie, sich mir zu entziehen? Wie konnte es sein, dass ich nichts bemerkte …? Sie hat bestimmt versucht, mir irgendein Zeichen zu geben, mir etwas mitzuteilen, was ich nicht verstand. Wo hatte ich nur meinen Kopf? Gewiss, ihr Blick hatte in letzter Zeit viel von seinem Glanz verloren, ihr Lachen war seltener geworden.
Aber war das schon die Botschaft, die ich hätte entschlüsseln müssen, die ausgestreckte Hand, nach der ich auf jeden Fall hätte greifen müssen, um zu verhindern, dass die Flut sie mitriss? Lächerliche Indizien für jemanden, der es an nichts fehlen ließ, um jeden Kuss in ein Fest zu verwandeln, jede Umarmung in einen Rausch. Ich stöbere im hintersten Winkel meiner Erinnerungen herum, auf der Suche nach einem winzigen Detail, das meine Seele hätte beruhigen können. Ich finde nichts wirklich Stichhaltiges. Zwischen Sihem und mir, das war die perfekte Liebe – nicht ein falscher Ton schien sich darin zu verbergen. Wir redeten nicht miteinander, sondern, wie es in den Romanzen heißt, unsere Seelen sprachen zueinander. Selbst wenn sie hin und wieder geklagt hätte, hätte ich doch nur geglaubt, ich würde sie singen hören, es war undenkbar für mich, dass sie nicht glücklich sei, da sie doch der Mittelpunkt meines Glücks war. Ein einziges Mal hat sie vom Sterben gesprochen. Das war am Ufer eines Schweizer Sees, zur Stunde, da der Horizont beim Sonnenuntergang wie auf dem Gemälde eines alten Meisters wirkte: »Ich würde dich keine Minute überleben«, gestand sie mir. »Du bist die Welt für mich. Ich komme jedes Mal halb um, wenn ich dich kurz aus den Augen verliere .« Strahlend schön war sie an jenem Abend, meine Sihem, in ihrem weißen Kleid. Die Männer ringsum an den Tischen dieser Restaurantterrasse verschlangen sie förmlich mit ihren Blicken. Sie schien selbst den See zu inspirieren, der langsam die Frische der Nacht in sich aufnahm … Nein, an diesem Ort hatte sie mich nicht vorgewarnt. Sie war so glücklich, so selbstvergessen, so ganz und gar hingegeben an diesen Lufthauch, der die Wasseroberfläche leise kräuselte; sie war das Schönste, was mir das Leben überhaupt schenken konnte.
Der alte Yehuda steht als Erster auf. Ich höre ihn Kaffee kochen. Ich wickle mich aus der Decke, schlüpfe in Hose und Schuhe, steige über Kim hinweg, die mit angezogenen Beinen vor meinem Bett liegt, das Laken um die Waden geschlungen.
Draußen rüstet die Nacht zum Aufbruch.
Ich gehe ins Parterre hinunter und wünsche Yehuda, der am Küchentisch sitzt, mit einer dampfenden Schale in den Händen, einen guten Morgen.
»Guten Morgen, Amin … Der Kaffee steht auf dem Rechaud .«
»Später«, antworte ich. »Erst will ich mir den Sonnenaufgang ansehen .«
»Eine gute Idee.«
Ich laufe einen kleinen Pfad zum Strand hinunter, lasse mich auf einem Felsen nieder und konzentriere mich auf die winzige Bresche, die sich da in die Finsternis schlägt. Die Meeresbrise dringt unter mein Hemd, zaust mir die Haare. Ich schlinge die Arme um die Knie, stütze sachte mein Kinn darauf und lasse den opalinen Streifen, der ganz langsam am Horizont aufsteigt, nicht mehr aus den Augen …
»Lass deinen
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