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Die Attentaeterin

Die Attentaeterin

Titel: Die Attentaeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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nicht viel, und die äußerste Anspannung zerreißt mich. Ich atme tief ein und mache den Umschlag auf – mir ist, als schwebte ich in größerer Gefahr, als wenn ich mir die Pulsadern aufgeschnitten hätte. Ätzender Schweiß läuft mir den Rücken herab. Mein Herz klopft immer heftiger, dröhnt dumpf in meinen Schläfen, füllt das Schlafzimmer mit seinem unbarmherzigen Rhythmus an.
    Der Brief ist kurz, ohne Datum, ohne Kopf. Wenige Zeilen, hastig hingeworfen auf ein aus einem Schulheft gerissenen Blatt.
    Ich lese:

    Was nützt das Glück, wenn man es nicht teilen kann, Amin, mein Geliebter? Meine Freude erstarb immer dann, wenn Deine nicht mithielt. Du wolltest Kinder. Ich wollte ihrer würdig sein. Kein Kind ist je wirklich in Sicherheit, wenn es kein Vaterland hat … Sei mir nicht böse.
    Sihem.

    Das Blatt gleitet mir aus den Händen, fällt zu Boden. Auf einen Schlag bricht alles zusammen. Die Frau, die ich einmal geheiratet habe, für die guten und für alle Zeiten, die Gefährtin meiner seligsten Jahre, die meine Zukunftspläne mit glitzernden Girlanden geschmückt, meine Seele mit ihrer süßen Gegenwart beglückt hat, finde ich nirgends wieder. Ich finde nichts von ihr wieder, weder an mir noch in meinen Erinnerungen. Selbst der Rahmen, der sie in einem fernen, endgültig vergangenen Moment gefangen hält, verliert vor mir seine Form, vermag das Bild von dem nicht mehr zu fassen, was ich für das Schönste hielt, das mir im ganzen Leben je begegnet ist. Ich fühle mich, als hätte mich jemand über eine Klippe gestoßen, als zöge es mich in einen bodenlosen Abgrund. Mein Kopf, meine Hände, mein ganzes Ich wehren sich, wehren ab … Gleich werde ich aufwachen … Doch ich bin wach. Ich träume nicht. Der Brief liegt zu meinen Füßen, am Boden, durch und durch wirklich, und stellt einfach alles in Frage: meine Überzeugungen, meine elementarsten Gewissheiten lösen sich nacheinander in Staub auf. Meine letzten Anhaltspunkte schwinden … Das ist einfach nicht gerecht … Erinnerungsbilder der drei Tage Arrest kommen wieder. Hauptmann Moshe verfolgt mich mit seiner dumpfen Stimme, die in mir einen Strudel verworrener Bilder auslöst. Ab und zu leuchtet ein Bild blitzartig daraus hervor. Ich sehe Naveed, der unten an der Treppe auf mich wartet, Kim, die mich, ein Häufchen Elend, auf dem Kiesweg aufliest, meine Angreifer, die mich in meinem eigenen Garten lynchen wollen … Ich stütze den Kopf in beide Hände und überlasse mich der grenzenlosen Erschöpfung, die mich überkommt.
    Was tust du mir da an, Sihem, meine Geliebte?
    Man glaubt alles zu wissen. Dadurch wird man immer nachlässiger und tut so, als stünde alles zum Besten. Und mit der Zeit bringt man den Dingen einfach nicht mehr die Aufmerksamkeit entgegen, die ihnen gebührt. Man hat Vertrauen. Was will man denn noch? Das Leben lächelt einem zu, das Glück ebenso. Man liebt und wird geliebt. Man hat die Mittel, sich seine Träume zu erfüllen. Alles läuft bestens, alles gelingt … Dann, ohne Vorwarnung, stürzt der Himmel über uns ein. Und erst, wenn man wehrlos am Boden liegt, merkt man plötzlich, dass das Leben, das ganze Leben mit all seinen Höhen und Tiefen, seinen Freuden, seinem Leid, seinen Verheißungen und seinen Enttäuschungen an einem einzigen seidenen Faden hängt. Mit einem Mal gerät man beim leisesten Geräusch in Panik, und man mag an überhaupt nichts mehr glauben. Man will nur noch die Augen zumachen und aufhören zu denken.

    »Du hast schon wieder vergessen, die Tür zu schließen !« , schimpft Kim mit mir.
    Sie steht aufrecht auf der Schwelle zum Schlafzimmer, die Arme über der Brust verschränkt. Ich habe sie gar nicht kommen hören.
    »Warum bist du vorhin so schnell verschwunden? Naveed und Ezra sind doch nur wegen dir gekommen. Erträgst du jetzt den Anblick deiner Freunde nicht mehr ?«
    Ihr ratloses Lächeln verblasst.
    »Meine Güte, was machst du denn für ein Gesicht ?«
    Ich sehe offenbar ziemlich erbärmlich aus, denn sie stürzt auf mich zu, packt mich bei den Handgelenken und prüft, ob sie unversehrt sind. »Du hast dir doch nicht etwa die Pulsadern aufgeschnitten? Verflucht! Du bist ja leichenblass. Hast du Gespenster gesehen oder was? Was hast du denn? Sag wenigstens was, verdammt. Du hast irgendwas geschluckt, ja? Sieh mir in die Augen, und sag mir, ob du etwas eingenommen hast! Wahnsinn, was du dir da antust, Amin !« , schreit sie und sieht sich suchend um, nach der Giftkapsel oder der Schachtel

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