Die Attentaeterin
mit den Schlaftabletten.
»Nicht eine Minute kann man dich mehr allein lassen …«
Ich sehe, wie sie sich hinkniet, einen forschenden Blick unters Bett wirft, mit der Hand hier und dort herumtastet …
Ich erkenne meine Stimme nicht wieder, als ich ihr gestehe: »Sie war es wirklich, Kim … Mein Gott! Wie konnte sie nur ?«
Kim hält mitten in der Bewegung inne. Erhebt sich halb. Versteht nicht.
»Wovon redest du ?«
Sie entdeckt den Brief zu meinen Füßen, hebt ihn auf, überfliegt ihn und zieht ihre Augenbrauen hoch.
»Allmächtiger !« , seufzt sie dann und sieht mir ins Gesicht.
Sie weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Stammelt ein bisschen herum, öffnet mir dann weit ihre Arme. Ich schmiege mich an sie, mache mich ganz klein, und zum zweiten Mal in weniger als zehn Tagen beginne ich, der seit Großvaters Tod vor über dreißig Jahren nicht eine Träne vergossen hat, loszuheulen wie ein kleines Kind.
Kim ist bis zum nächsten Morgen bei mir geblieben. Als ich aufwache, finde ich sie im Sessel neben meinem Bett, zusammengesunken, sichtlich am Ende ihrer Kräfte. Der Schlaf hat uns übermannt, als wir am wenigsten mit ihm gerechnet haben. Ich weiß nicht, wer von uns beiden als Erster eingenickt ist. Ich bin mit Schuhen an den Füßen und zugeknöpfter Jacke eingeschlafen. Seltsamerweise habe ich das Gefühl, als sei ein gewaltiges Unwetter vorübergezogen. Sihems Foto auf dem Nachttisch berührt mich nicht. Ihr Lächeln ist verflogen, ihr Blick leer. Mein Kummer hat mir gewaltige Wunden geschlagen, ohne mich niederzustrecken …
Draußen knabbert Vogelgezwitscher an der morgendlichen Stille. Es ist vorbei, sage ich zu mir. Der Morgen bricht an.
Kim nimmt mich mit zu ihrem Großvater, der in einem kleinen Haus an der Küste lebt. Der alte Yehuda hat keine Ahnung, was ich durchgemacht habe, und das ist auch besser so. Was ich jetzt brauche, sind Leute, die mich mit denselben Augen wie früher ansehen, deren Schweigen ich nicht für Verlegenheit halte, und ihr Lächeln nicht für Mitgefühl. Unterwegs vermeiden Kim und ich es, den Brief zu erwähnen. Um erst gar nicht in Gefahr zu geraten, bleiben wir stumm. Kim sitzt am Steuer ihres Nissan , die Sonnenbrille auf der Nase. Ihre Haare flattern im Fahrtwind. Sie blickt angestrengt geradeaus, die Hände ans Lenkrad geklammert. Ich meinerseits betrachte mein bandagiertes Handgelenk und versuche, mich auf das Brummen des Motors zu konzentrieren.
Der alte Yehuda empfängt uns mit der gewohnten Höflichkeit. Seit einer Generation ist er verwitwet, seine Kinder sind längst auf und davon, führen ihr Leben unter fremden Himmeln. Er ist ein hagerer Greis, mit knochigen Wangen und reglosen Augen in einem vom Leben gezeichneten Gesicht. Er erholt sich eben erst von einem Prostatakrebs, der ihn binnen weniger Monate befallen hat. Er freut sich über jeden Besuch. Es ist , als würde man ihn zum Leben erwecken. Er ist zum Einsiedler wider Willen geworden, in seinem Haus, das er mit eigenen Händen erbaut hat, von Gott und der Welt vergessen, inmitten seiner Bücher und Fotos, die bis ins kleinste Detail den ganzen Horror der Schoah schildern. Wenn dann irgendein Freund oder Angehöriger an seine Tür klopft, ist es, als würde man den Deckel heben, unter dem er sich verbirgt, und ein wenig Licht in seine Nacht bringen.
Wir essen zu dritt in einem Strandrestaurant zu Mittag. Der Tag ist schön. Bis auf eine faserige Wolke, die in der Luft zerfließt, hat die Sonne den Himmel für sich allein. Ein paar Familien vergnügen sich im Sand, manche haben ein spontanes Picknick veranstaltet, andere planschen mit nackten Waden durchs Wasser. Kinder spielen Fangen und kreischen dabei wie die Vögel …
»Warum hast du Sihem denn nicht mitgebracht ?« , fragt mich der alte Yehuda unvermittelt.
Mir bleibt das Herz stehen.
Kim hätte sich fast an ihrer Olive verschluckt, auch sie völlig überrascht. Sie hatte zwar mit einer Frage dieser Art von ihrem Großvater gerechnet, doch sehr viel früher, und dann, da lange nichts kam, in ihrer Wachsamkeit nachgelassen. Ich sehe, wie sie sich verkrampft und mit hochrotem Kopf so bang auf meine Antwort wartet wie der Angeklagte auf den Schiedsspruch. Ich tupfe mir die Lippen mit einer Serviette ab und antworte nach einem zögerlichen Schweigen, dass Sihem verhindert war. Der alte Yehuda nickt und wendet sich wieder seiner Suppe zu. Ich begreife, dass er das nur so dahingesagt hat, wahrscheinlich, um das Schweigen zu brechen,
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