Die Attentaeterin
inneren Aufruhr im Rauschen der Wellen aufgehen !« Überraschend lässt sich der alte Yehuda neben mich fallen. »Das ist die beste Methode, sich innerlich von allem frei zu machen …«
Er lauscht einer Welle, die im Hohlraum eines Felsens gurgelt, dann fährt er sich mit dem Handgelenk über die Nase und vertraut mir an: »Man sollte immer aufs Meer hinaussehen. Das ist ein Spiegel, der einen nicht belügen kann. Auf die Weise habe ich auch gelernt, nicht mehr zurückzusehen. Denn sobald ich einen Blick über die Schulter warf, waren der alte Schmerz und die Gespenster der Vergangenheit wieder da. Sie hinderten mich daran, Freude am Leben zu haben, verstehst du? Sie machten all meine wiedergewonnene Lebensfreude zunichte …«
Er buddelt einen Kieselstein aus, wiegt ihn geistesabwesend in der Hand. Seine Stimme wird brüchig, als er hinzufügt: »Deshalb habe ich auf meine alten Tage auch den Entschluss gefasst, in meinem Haus am Rand des Meeres zu sterben … Wer aufs Meer hinaussieht, wendet dem Unglück der Welt den Rücken zu. Er findet sich irgendwie damit ab .« In hohem Bogen schleudert er den Kieselstein ins Meer. »Ich habe die meiste Zeit meines Lebens damit verbracht, vergangenem Leid nachzuspüren. Nichts schien mir bedeutsamer zu sein als eine Andacht oder eine Gedächtnisfeier. Ich war überzeugt, die Schoah nur überlebt zu haben, um die Erinnerung daran lebendig zu erhalten. Ich hatte für nichts außer für Mahnmale Augen. Sobald ich hörte, dass irgendwo eins eingeweiht wurde, sprang ich ins Flugzeug, um in der vordersten Reihe dabei zu sein. Ich nahm alle Vorträge auf Tonband auf, die vom Genozid an den Juden handelten, und eilte von einem Ende der Welt ans andere, um zu berichten, was unser Volk in den Vernichtungslagern auszustehen hatte, zwischen Gaskammern und Verbrennungsöfen … Dabei habe ich vom Holocaust so gut wie nichts mitbekommen. Ich war erst vier. Ich frage mich manchmal, ob gewisse Erinnerungen nicht die Frucht der Traumata sind, die ich erst sehr viel später erlitten habe, lange nach dem Krieg, in den düsteren Kinosälen, in denen man Dokumentarfilme über die Nazigreuel zeigte.«
Nach langem Schweigen, während dessen er gegen die aufsteigende Rührung, die ihn zu überwältigen droht, ankämpfen muss, fährt er fort: »Ich bin auf die Welt gekommen, um glücklich zu sein. Die Vorsehung hatte es gut mit mir gemeint. Ich war gesund an Körper und Geist. Meine Familie war wohlhabend. Mein Vater war Arzt in der angesehensten Praxis von ganz Berlin. Meine Mutter lehrte Kunstgeschichte an der Universität. Wir wohnten in einem wundervollen Haus in einem Nobelviertel mit einem Garten groß wie eine Wiese. Wir hatten Bedienstete, die mich nach Strich und Faden verwöhnten, mich, den Jüngsten von sechs Geschwistern. Natürlich sahen wir, dass in der Stadt nicht alles in bester Ordnung war. Die Rassentrennung wurde jeden Tag deutlicher. Die Leute, denen wir auf der Straße begegneten, machten unschöne Bemerkungen. Doch sobald wir die Haustür geschlossen hatten, waren wir in einem Hafen des Glücks …
Dann, eines Morgens , war alles aus, und wir reihten uns in eine endlose Schlange verstörter Familien ein, die man von zu Hause verjagt hatte und den Dämonen der Kristallnacht überließ. So mancher Morgen erhebt sich über einer neuen Nacht. Doch wohl keiner war je so bodenlos wie dieser Herbstmorgen des Jahres 1938. Ich werde mich noch lange an das Schweigen erinnern, das über dem Unglück dieser Menschen mit dem leeren Blick hing, deren gelber Stern dem Schnitt ihrer Kleidung Hohn sprach.«
»Der Judenstern taucht erstmals im September 1941 auf .«
»Ich weiß. Aber er ist trotzdem da, wie ein Pfropf, der auf jeder Erinnerung sitzt und der mein Gedächtnis bis in den letzten Winkel verseucht. Ich frage mich, ob ich nicht schon damit geboren wurde … Ich war nur ein Dreikäsehoch, dennoch kommt es mir vor, als hätte ich schon damals weit über die Köpfe der Erwachsenen hinweggeblickt, ohne den kleinsten Streifen Horizont zu erkennen. Das war ein Morgen wie kein anderer. Wir waren eingeschlossen von grauen Schwaden, und der Nebel löschte unsere Spuren aus auf den Wegen ohne Wiederkehr. Ich erinnere mich an jede Regung in den erstarrten Gesichtern, an diese Betäubung, die über der Tragödie lag, an welkes Laub, das nach Tierkadaver roch. Wenn ein Gewehrkolben einen erschöpften Verdammten zu Boden warf, blickte ich hoch zu meinem Vater, um zu verstehen. Er zerwühlte
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