Die Attentaeterin
von heute jemals Zugang haben. Obwohl grausam gebeutelt vom Missbrauch der einen, dem Martyrium der anderen, fällt sie nicht vom Glauben ab – heute Abend weniger denn je. Es sieht aus, als halte sie Andacht inmitten ihrer Kerzen, als würden die Verheißungen, die ihr einst zugedacht waren, in vollem Umfang wahr, jetzt, da die Menschen sich anschicken, schlafen zu gehen. Die Stille ist ein Hafen des Friedens. Der Wind wispert im Laub, beladen mit Weihrauch und abendlichen Düften. Man müsste nur noch die Ohren spitzen, um den Pulsschlag der Götter zu hören, die Hand ausstrecken, um ihr Erbarmen zu spüren, voller Geistesgegenwart sein, um mit ihnen eins zu werden.
Als Jugendlicher habe ich Jerusalem sehr geliebt. Mir lief derselbe Schauder über den Rücken, ob ich nun vor dem Felsendom oder am Fuß der Klagemauer stand, und die Ruhe, die von der Grabeskirche ausging, bewegte mich zutiefst. Ich wanderte von Viertel zu Viertel, und es war, als wechselte ich von einem Beduinenmärchen in eine aschkenasische Fabel hinüber. Beides beglückte mich gleichermaßen, und ich musste gar kein Gewissensverweigerer sein, um allen Kriegstheorien und Hasspredigten mein Vertrauen zu entziehen. Ich musste nur meine Augen zu den Fassaden ringsum erheben, um allem zu widerstehen, was an ihrer unwandelbaren Majestät kratzen könnte. Bis heute sehnt sich Jerusalem im Spagat zwischen der Lust der Odaliske und der Enthaltsamkeit der Heiligen nach rauschenden Festen und schwärmerischen Verehrern, ist verstört durch den Tumult, den seine Sprösslinge veranstalten, und hofft allen Stürmen zum Trotz, dass ein Lichtstrahl die Seelen aus ihrer Verirrung erlöst. Abwechselnd Ghetto und Olymp, Muse und Mätresse, Tempel und Arena, leidet die Stadt darunter, ihre Dichter nicht inspirieren zu können, ohne dass die entfachte Leidenschaft rasch wieder entartet, und sie siecht, den Tod im Herzen, als ein Spielball der Launen dahin, wie ihre Gebete, die im frevlerischen Donner der Kanonen verpuffen …
»Und wie war er ?« , unterbricht mich Kim.
»Was denn?«
»Na, dein Tag!«
Ich tupfe mir den Mund mit einer Serviette ab.
»Sie haben nicht damit gerechnet, mich noch mal zu sehen«, antworte ich. »Jetzt, wo sie mich am Hals haben, wissen sie nicht, wo ihnen der Kopf steht .«
»Tatsächlich …? Und worin besteht deine Taktik genau ?«
»Ich habe gar keine. Da ich nicht weiß, wo ich anfangen soll, bin ich mitten hineingeplatzt .«
Sie schenkt mir Mineralwasser ein. Nicht gerade mit ruhiger Hand.
»Und du glaubst, die sehen dir dabei tatenlos zu ?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung .«
»Wenn dem so ist, worauf willst du hinaus ?«
»Das müssen die mir sagen, Kim. Ich bin weder Polizist noch Reporter. Ich bin nur wütend, und meine Wut würde mich auffressen, wenn ich die Hände einfach so in den Schoß legte. Offen gestanden weiß ich nicht so recht, was ich will. Ich höre auf etwas tief in mir drin, das mich lenkt, wie es will. Ich weiß nicht, wohin der Weg mich führt, und es ist mir auch egal. Aber ich versichere dir, ich fühle mich schon viel besser, jetzt, wo ich sie alle aufgerüttelt habe. Das war wie ein Schritt in den Ameisenhaufen. Hättest mal sehen sollen, was los war, als sie mich plötzlich mitten auf ihrem Weg entdeckten … Verstehst du, was ich sagen will ?«
»Eher nicht, Amin. Was du da vorhast, klingt nicht so, als käme viel Gutes dabei heraus. Meiner Meinung nach nimmst du dir die Falschen vor. Was du brauchst, ist ein Therapeut und nicht ein Guru. Diese Leute sind dir gegenüber keine Rechenschaft schuldig .«
»Sie haben meine Frau getötet .«
»Sihem hat sich selber getötet, Amin«, antwortet sie sanft, als fürchte sie, schlafende Dämonen zu wecken.
»Sie wusste, was sie tat. Sie hat sich ihr Schicksal selbst gewählt. Das ist nicht dasselbe .«
Kims Bemerkung erbittert mich.
Sie nimmt meine Hand. »Wenn du ohnehin nicht weißt, was du willst, warum willst du dich dann Hals über Kopf da reinstürzen? Es ist nicht der richtige Weg, Amin. Angenommen, diese Leute lassen sich dazu herab, sich mit dir zu treffen, was versprichst du dir davon? Sie werden dir sagen, dass deine Frau für die gute Sache gestorben ist, und dich auffordern, es ihr gleichzutun. Das sind Menschen, die haben der irdischen Welt längst entsagt, Amin. Erinnere dich nur daran, was Naveed gesagt hat: das sind alles potentielle Märtyrer, sie warten nur auf grünes Licht, um sich in Rauch aufzulösen. Ich versichere
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