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Die Attentaeterin

Die Attentaeterin

Titel: Die Attentaeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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fern jedes emotionalen Gehalts, der mich berühren könnte … Sihem unter einem Sonnenschirm, das Gesicht hinter einer riesigen Sonnenbrille versteckt, in Scharm el Scheich; Sihem auf den Champs-Élysées in Paris; wir beide in Positur neben einem Wachposten der Garde Ihrer Majestät, der Königin von England; mit meinem Neffen Adel im Garten; auf einer mondänen Abendgesellschaft; bei einem Empfang zu meinen Ehren; mit ihrer Großmutter auf dem Bauernhof in Kafr Kanna; ihr Onkel Abbas in Gummistiefeln, bis zu den Knien im Matsch; Sihem vor der Moschee ihres Geburtsviertels in Nazareth … Ich tippe Erinnerung um Erinnerung an, ohne mich länger dabei aufzuhalten. Es ist, als blätterte ich die Seiten eines früheren Lebens um, eines abgeschlossenen Falls … Dann lässt ein Foto mich stutzen. Mein Neffe Adel ist darauf zu sehen, wie er lacht, die Hände auf die Hüften gestützt, vor einer Moschee in Nazareth. Ich blättere zurück, bis an die Stelle, wo Sihem vor der Moschee ihrer Kindheit posiert. Es ist ein Foto jüngeren Datums, kein Jahr alt, ich erkenne das an der Handtasche, die ich ihr zum Geburtstag gekauft hatte, das war im letzten Januar. Zur Rechten sieht man die Motorhaube eines roten Wagens und einen Jungen, der vor einem Welpen kauert. Ich blättere zum Foto mit Adel zurück. Auch hier der rote Wagen, der Junge und der Welpe. Die beiden Fotos wurden also zur selben Zeit aufgenommen, vermutlich unmittelbar hintereinander von den beiden Personen, die darauf abgebildet sind. Ich brauche eine Weile, bis ich es verstehe. Wenn sie zu Besuch bei ihrer Großmutter war, ist Sihem regelmäßig nach Nazareth gefahren. Sie war ganz vernarrt in ihre Heimatstadt. Aber Adel …? Ich erinnere mich nicht, ihn je dort angetroffen zu haben. Das war nicht seine Welt. Er kam uns oft in Tel Aviv besuchen, wenn seine Geschäfte ihn aus Bethlehem wegriefen, aber von da nach Nazareth … Mein Herz zieht sich zusammen. Eine sonderbare Beklemmung beschleicht mich. Die beiden Fotos machen mir Angst. Ich suche nach einem Motiv, einer Erklärung, einem Beweggrund, umsonst. Meine Frau ist nie mit engen Freunden oder Verwandten einfach so ausgegangen, ohne dass ich davon wüsste. Sie sagte mir immer, bei wem sie war, wen sie traf, mit wem sie telefonierte. Sicher, sie mochte Adel sehr, wegen seines Humors und seines spontanen Wesens, aber dass sie sich außer Haus mit ihm traf, und dann auch noch woanders als in Tel Aviv, ohne mir davon zu erzählen, das wäre ganz untypisch für sie.
    Dieser Zufall beschäftigt mich, lässt mich nicht los. Holt mich im Restaurant ein, verdirbt mir den Appetit. Wartet schon zu Hause auf mich. Hält mich wach trotz zweier Schlaftabletten … Adel und Sihem … Sihem und Adel … Der Omnibus von Tel Aviv nach Nazareth … Sie hat ein dringendes Bedürfnis vorgeschützt und ist ausgestiegen, um in ein Auto zu steigen, das dem Bus gefolgt war … Ein cremefarbener Mercedes, älteres Modell. Identisch mit dem, den ich in der ehemaligen Lagerhalle in Bethlehem kurz gesehen hatte … Der gehört Adel, hatte Yasser mir stolz bestätigt … Sihem in Bethlehem, die letzte Etappe vor dem Attentat … So viel Zufall ist kein Zufall mehr.
    Ich schiebe die Bettdecke weg. Der Wecker steht auf fünf Uhr früh. Ich ziehe mich an, steige in mein Auto und nehme Kurs auf Kafr Kanna.
    Auf dem Hof treffe ich niemanden an. Ein Nachbar erklärt mir, dass man die Großmutter ins Krankenhaus nach Nazareth gebracht hat und ihr Neffe Abbas bei ihr ist. Im Krankenhaus lässt man mich nicht zu der Patientin vor, die in aller Eile in den OP-Saal gerollt wird. Gehirnblutung, informiert mich die Krankenschwester. Abbas sitzt im Warteraum im Halbschlaf auf einer Bank. Er steht noch nicht einmal auf, als er mich sieht. Das liegt in seiner Natur; so unbeweglich wie ein verrosteter Karabiner. Fünfundfünfzig und noch immer Junggeselle, nie von seiner Farm weggekommen, traut er keiner Frau und keinem Städter über den Weg und schuftet lieber von früh bis spät, als sich mit jemandem, und sei es auch nur für ein Mittagessen, an einen Tisch zu setzen, der nicht nach Erde und Schweiß riecht. Ein richtiger Holzklotz, aus Eiche geschnitzt, mit verbissenen Lippen und einem Betonschädel. Er trägt schlammverkrustete Stiefel, ein Hemd mit hellen Schweißflecken unter den Achseln und eine Hose aus grobem Stoff, dass man meint, er hätte sie aus einer Plane zugeschnitten. Er erklärt mir in drei Sätzen, dass er Großmutter mit offenem

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