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Die Attentaeterin

Die Attentaeterin

Titel: Die Attentaeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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ausgesucht und auch eigenhändig aufgehängt hatte. Ich sehe sie vor mir, wie sie ein paar Schritte zurückmacht, einen Finger ans Kinn gelegt, den Kopf bald nach rechts, bald nach links geneigt, um sich zu überzeugen, dass der Rahmen auch gerade hängt. Sihem hatte einen ausgeprägten Sinn fürs Detail. Sie überließ nichts dem Zufall und konnte Stunden damit zubringen, über den richtigen Platz für ein Gemälde oder einen Faltenwurf zu grübeln. Vom Esszimmer zur Küche, von Raum zu Raum habe ich das Gefühl, auf ihren Spuren zu gehen. Die Szenen, die sich vor meinen Augen abspielen, meine Erinnerungen verdrängen, sind gespenstisch real. Da liegt sie entspannt auf dem Ledersofa. Dort trägt sie behutsam rosa Nagellack auf. Jeder Winkel hütet ein Stückchen von ihrem Schatten, jeder Spiegel reflektiert einen Ausschnitt von ihrem Bild, jedes Rascheln des Vorhangs erzählt von ihr. Ich brauche nur die Hand auszustrecken, nach einem Lachen, einem Seufzen, einem Hauch ihres Parfums … Ich wünsche mir eine Tochter von dir, habe ich ihr in den Anfängen unserer Liebe gesagt … Blond oder braun?, fragte sie errötend zurück …. Gesund und schön soll sie sein. Ihre Augenfarbe, ihre Haarfarbe sind mir egal. Deinen Blick soll sie haben und deine Grübchen, damit sie, wenn sie lächelt, dein Ebenbild wird … Ich gelange in den Salon im ersten Stock, der mit granatrotem Velours ausstaffiert ist, mit milchigen Vorhängen vor den Fenstern und zwei imposanten Sesseln auf einem edlen Perserteppich, der einen gläsernen Couchtisch mit Chromgestell trägt. Ein enormer Bücherschrank aus Kirschholz nimmt eine ganze Breitseite ein, beladen mit liebevoll aufgereihten Büchern und Souvenirs aus aller Welt. Dieser Raum war unser Elfenbeinturm, reserviert für Sihem und mich. Hier hatte niemand Zutritt. Es war unser Refugium, unsere Ruhehöhle. Hierher zogen wir uns manchmal zurück, um dem Schweigen in uns zu lauschen und unsere vom Alltagslärm abgestumpften Sinne zu schärfen. Wir nahmen ein Buch zur Hand oder legten Musik auf, und schon waren wir in einer anderen Welt. Wir lasen mit gleicher Begeisterung Kafka und Khalil Gibran und lauschten mit derselben Andacht Oum Kalsoum oder Pavarotti … Plötzlich bekomme ich von oben bis unten eine Gänsehaut. Ich spüre ihren Atem in meinem Nacken, schwer, warm, keuchend, jetzt müsste ich mich nur noch umdrehen, um mich Auge in Auge mit ihr zu befinden, sie mit ihren wilden Locken vor mir zu sehen, strahlend, mit riesengroßen Augen, schöner als in meinen verrücktesten Träumen …
    Ich drehe mich nicht um.
    Ich gehe rückwärts aus dem Salon, bis ihr Atem sich im Luftzug verliert, kehre in mein Schlafzimmer zurück, knipse alle Lichter und Lampen an, um den letzten Schatten aus dem hintersten Winkel zu vertreiben, ziehe mich aus, rauche eine letzte Zigarette, schlucke zwei Beruhigungspillen und schlüpfe unter die Bettdecke. Ohne das Licht zu löschen.

    Am nächsten Morgen finde ich mich oben im Salon wieder, das Gesicht ans Fenster gepresst, in den dämmernden Morgen hinausstarrend. Wie bin ich zurückgekommen an diesen Geisterort? Aus eigenem Antrieb oder schlafwandelnd? Ich weiß es nicht.
    Der Himmel über Tel Aviv übertrifft sich selbst. Nicht der Hauch einer Wolke ist in Sicht. Vom Mond nichts als eine kleine Sichel. Die letzten Sterne der Nacht erlöschen sanft im opalisierenden Licht des Sonnenaufgangs. Vor meinem Gartentor poliert der Nachbar von gegenüber seine Windschutzscheibe. Er steht hier im Viertel immer als Erster auf. Als Geschäftsführer eines der schicksten Restaurants der Stadt möchte er vor der Konkurrenz auf dem Großmarkt sein. Manchmal tauschten wir in nächtlicher Finsternis ein paar Grußworte, wenn er zum Markt aufbrach und ich vom Krankenhaus heimkam. Seit dem Attentat behandelt er mich wie Luft.
    Der Glaser kommt gegen 9 Uhr vorgefahren, in einem von der Sonne verblichenen Lieferwagen. Zusammen mit zwei pickelgesichtigen Lehrjungen lädt er sein Material und seine Glasscheiben ab, behutsam wie ein Feuerwerker, der mit einem Sprengsatz hantiert. Er kündigt an, dass der Schreiner jeden Moment auftauchen wird. Und da ist er auch schon, an Bord eines Kleinlasters mit Plane. Ein langer hagerer Kerl im verschlissenen Overall, mit zerfurchtem Gesicht und ernstem Blick. Er fragt gleich nach den beschädigten Fenstern. Der Glaser führt ihn durchs Haus. Ich bleibe in meinem Sessel im Erdgeschoss sitzen, mit meiner Zigarette und einer Tasse Kaffee.

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