Die Attentaeterin
Eine Sekunde lang denke ich, ich könnte eigentlich eine Runde durch den kleinen Park in der Nähe drehen, mir die Beine vertreten und das Hirn durchlüften lassen. Das Wetter ist schön, und die Sonne taucht die Bäume ringsum in goldenes Licht – doch das Risiko, eine unschöne Begegnung könnte mir den Tag verderben, hält mich davon ab.
So gegen 11 Uhr ruft Naveed Ronnen an. Inzwischen ist der Schreiner mitsamt den zu reparierenden Fenstern unter der LKW-Plane Richtung Werkstatt davongefahren, und vom Glaser und von seinen beiden Gehilfen im Obergeschoss hört und sieht man nichts mehr.
»Na, alter Freund, wie geht’s denn so ?« , tönt mir Naveed ins Ohr, äußerst zufrieden, mich am anderen Ende der Leitung zu haben. »Alzheimer oder simple Zerstreutheit? Du kommst und gehst, verschwindest und tauchst wieder auf, ohne nur einmal daran zu denken, deinen alten Kumpel anzurufen und ihm deine Adresse zu hinterlassen .«
»Was für eine Adresse? Du sagst doch selber, dass mich nichts am Platz hält .«
Er lacht. »Das ist doch kein Hindernis. Ich habe auch Hummeln im Hintern, aber meine Frau weiß immer ganz genau, wo sie mich erreichen kann, wenn es darauf ankommt. Wie war’s denn so in Jerusalem ?«
»Woher weißt du denn, dass ich in Jerusalem war ?«
»Ich bin doch schließlich Bulle …« Er lacht kurz auf.
»Ich habe bei Kim angerufen, und Benjamin war dran.
Der hat mir gesagt, wo ihr wart .«
»Und wer hat dir gesagt, dass ich zurück bin ?«
»Ich hab Benjamin angerufen, und Kim war dran …
Zufrieden? … Also, warum ich eigentlich anrufe: Margaret wäre entzückt, wenn du zum Abendessen vorbeikommen könntest. Sie hat dich ewig nicht mehr gesehen .«
»Nicht heute Abend, Naveed. Ich hab Reparaturen durchzuführen. Im Moment sind die Glaser da, und heut früh hat ein Tischler vorbeigeschaut .«
»Dann also morgen.«
»Ich weiß nicht, ob ich bis dahin mit allem fertig bin .«
Naveed räuspert sich, denkt kurz nach und schlägt mir dann vor: »Wenn viel Arbeit bei dir anfällt, kann ich dir auch Verstärkung schicken .«
»Das sind alles nur kleinere Dinge. Es sind schon genug Leute im Haus .«
Naveed räuspert sich erneut. Das ist ein Tick, den er immer hat, wenn er verlegen ist.
»Aber die bleiben doch wohl nicht über Nacht ?«
»Nein, aber das ändert auch nichts. Dank dir, dass du angerufen hast, und Gruß an Margaret .«
Als Kim sich gegen Mittag noch immer nicht gemeldet hat, begreife ich, dass sie hinter dem Anruf von Naveed steckt, um zu hören, ob ich noch auf der Welt bin.
Der Tischler kommt mit den Fenstern zurück, baut sie allein wieder ein und überprüft in meiner Gegenwart, ob sie sich einwandfrei öffnen und schließen lassen. Dann lässt er mich eine Rechnung unterschreiben, kassiert das Geld und zieht los, eine erloschene Kippe im Mundwinkel. Der Glaser und seine Gefährten sind schon seit längerem verschwunden. Ich habe mein Haus endlich wieder für mich allein, mitsamt den mysteriösen Schatten seines Halbdunkels, und ich gehe nach oben in den Salon, um meinen Gespenstern kühn ins Auge zu blicken. Nichts bewegt sich in den Ecken und Winkeln. Ich lasse mich in einen Sessel sinken und sehe der Nacht zu, die sich wie ein Vorhang über die Stadt herabsenkt und den Horizont dunkelrot färbt.
Sihem lächelt in einem Rahmen über der Stereoanlage, ein Auge größer als das andere, vielleicht, weil das Lächeln erzwungen ist. Man lächelt immer, wenn der Fotograf einen zu überreden versteht – selbst wenn es nicht von Herzen kommt. Das ist ein altes Bild, eins ihrer ersten Fotos, von kurz nach der Hochzeit. Ich erinnere mich noch genau, sie brauchte ein Foto für ihren Reisepass. Sihem legte keinen besonderen Wert darauf, unsere Flitterwochen im Ausland zu verbringen. Sie wusste, dass meine Mittel begrenzt waren, und zog es vor, das Geld in eine Wohnung zu investieren, die etwas weniger trist wäre als die Stadtrandwohnung, in der wir damals lebten.
Ich stehe auf, um mir das Bild aus der Nähe anzusehen. Links von mir, in einem Regal mit Schallplatten, steht ein in Leder gebundenes Fotoalbum. Fast mechanisch nehme ich es heraus, kehre zum Sessel zurück und beginne zu blättern. Es löst keine großen Emotionen in mir aus. Es ist, als blätterte ich beim Zahnarzt im Wartezimmer in einer Illustrierten. Die Fotos ziehen unter meinen Augen vorbei, den Moment festhaltend, in dem sie gemacht wurden, kühl wie das Glanzpapier, auf dem sie ihre Geschichten erzählen,
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