Die Attentäterin
Treppe endet an einem U- Bahn-Tunnel, führt direkt auf eine schmale Plattform, die wie ein Laufsteg an der Tunnelwand entlangläuft.
»Ich rieche Orks«, sagt Tikki leise.
Der Mann bleibt stehen, deutet auf den Beton unter ihren Füßen und sagt: »Tiefer.«
Tikki nickt.
Sie folgen dem Laufsteg etwa hundert Meter weit, bevor sie eine Metalltür in der Tunnelwand erreichen. Der Mann öffnet die Tür, hinter der sich ein Betonschacht mit in die Schachtwand eingelassenen Metallsprossen öffnet. Sie erklimmen die Sprossen. Vier Meter höher steigen sie durch eine Öffnung in der Wand. Der Gang, in dem sie sich befinden, bringt sie in einen Raum.
Ein seltsamer Raum. Rohre unter der Decke und an den Wänden lassen vermuten, daß er früher einmal etwas mit dem U-Bahn-Tunnel weiter unten zu tun gehabt haben muß. Vielleicht hat er das immer noch. Wer weiß? Tikki konzentriert sich auf das, was sie vor Augen hat. Der Raum ähnelt einer Höhle, ist Wohnzimmer und Schlafzimmer zugleich. Die Kombination verschiedener Funktionen überrascht sie weniger als die Art, wie diese Kombination hergestellt worden ist. Das Aussehen des Zimmers. Wie ein Wald in der Nacht. Schwarze Wände, auf die Bäume und dichtes Unterholz gemalt sind, erheben sich zu einem Sternenhimmel und einer gewaltigen weißen Scheibe an der Decke, die der Mond sein muß. Das Bett befindet sich auf einem niedrigen Podest, das fast vollständig von Topfblumen und Plastikpflanzen verdeckt ist. Manche der Pflanzen sind so groß wie kleine Bäume und mit Chemikalien behandelt, die die Gerüche echter Vegetation nachahmen.
»Du wohnst hier?«
»Ich... komme seit langer Zeit hierher.«
Der Ort riecht nach ihm. Tikki erforscht ihn, behält den Mann dabei jedoch im Auge. Sie sieht allen möglichen Plunder zwischen den Plastikpflanzen und den Möbeln, die zweifellos vom Sperrmüll stammen: Stapel von Zeitungen und Illustrierten, einen Autoreifen, einen Scheinwerfer, ein altes Deck, ein Schnittmuster und andere, noch merkwürdigere Gegenstände. Sie bleibt stehen und mustert den Mann.
»Etwas zu trinken?« fragt er.
Tikki nickt.
»Wasser?«
Tikki nickt.
»Gut.« Der Mann sagt das so entschieden, als billige er ihre Getränkewahl. Vielleicht hat er damit gerechnet. Vielleicht hat er auch nichts anderes außer Wasser. Er holt eine Plastikflasche vom anderen Ende des Raumes und reicht sie ihr.
»Du zuerst«, sagt Tikki.
Der Mann mustert sie einen Augenblick lang, dann nimmt er einen Schluck. Er fällt nicht tot um, also nimmt Tikki ebenfalls einen Schluck.
»Wie heißt du?«
»Raa«, sagt er. »Raman.«
»Raa Raman.«
»Nur Raman.« Er beobachtet Tikki, wie sie die Flasche wieder verschließt und abstellt. Er starrt sie an, bis sich ihre Blicke begegnen. Er macht einen verwirrten Eindruck. »Vorhin... in diesem Haus. Du... hast mich verteidigt. Warum?«
Warum? Weil sie verrückt ist. Weil sie wußte, der Mann auf der Treppe würde schießen. Weil sie in dem Augenblick, als sie eine Entscheidung treffen mußte, nicht wußte, ob dieser Mann, Raman, noch einen schweren Treffer aus einer Schußwaffe überleben würde. Weil sie die Vorstellung, einem Mann ihrer eigenen Rasse begegnet zu sein, mit einem derartigen Drängen erfüllt hat, daß sie einfach nicht anders konnte. Wie soll sie das alles erklären?
Antwort: Gar nicht. »Du wolltest mich umbringen. Warum?«
Raman starrt sie eine Weile an, dann sagt er: »Das war vorher. Bevor mir ein Licht aufging.«
»Beantworte die Frage.«
»Wegen Geld. Ein Wetwork-Kontrakt.«
Warum überrascht sie das nicht? Wenn sie je über den Schock hinwegkommt, was er ist, wird sie vielleicht in ihrem ganzen Leben nicht mehr überrascht sein. »Du bist ein Artist.«
»Ich ziehe... Kick-Jobs dem Töten vor. Aber, ja. Du hast recht, ich bin ein Artist. Ein Techniker. Verstehst du?«
Tikki nimmt an, die Art und Weise, wie er sie überfallen hat, könnte man als ziemlich artistisch bezeichnen. Sie weiß immer noch nicht, wie es ihm gelungen ist, sie von oben anzugreifen. Der Mann sieht nicht so aus, als gehöre er zu der Sorte, die etwas so Spezielles wie Techniken des Wandkletterns meistern kann. Ein sarkastisches Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. »Warum lebe ich dann noch?«
Jetzt zeigt seine Miene deutliche Anzeichen der Verwirrung. »Ich... weiß nicht... was du bist. Ich... bin immer noch nicht sicher. Wir scheinen uns zu gleichen. Was bist du?«
»Du hast gesehen, was ich bin.«
»Als was... bezeichnest du
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