Die Aufrichtigen (German Edition)
seinen Namen, im Laufe seines Lebens hatte er all diese dicken Bücher geschrieben, wie Steine eines Schutzwalls, eine Mauer des Wissen, die sorgfältig den Raum dahinter verschloss. Das Ungewisse, die Ahnung, das Leiden. Doch welche Mauer kann die Sehnsucht danach ersticken, was sich dahinter befindet? Die Sehnsucht lässt jede Mauer brüchig werden. Dort waren das Fühlen, das Hoffen und der Glaube verborgen, das seit der Urzeit Erlittene. Das Wissen vermochte nichts dagegen.
Mit ein paar geübten Griffen öffnete er die Geheimtür hinter den Büchern im Regal. Er zog den Schrein mit dem Fatschenkind heraus und stellte ihn auf den Schreibtisch. Sodann ging er zum Regal zurück, zwängte die Nägel seiner beiden Zeigefinger in eine nicht zu erkennende Rille im Boden des Geheimfaches und hob endlich die Platte an. Dort lag er, der braune Umschlag. Er umhüllte das Manuskript zum Gutachten über die Fragmente des Ammianus Marcellinus. Das erste Manuskript, das echte. Auf über fünfhundert Seiten war hier festgehalten, weshalb das angeblich aus dem Geheimarchiv des Vatikans stammende Fragment eine Fälschung war. Der Professor hatte sehr genau gearbeitet und anhand von dreiundfünfzig Beispielen aufgezeigt, welche Redewendungen oder Wörter zur Zeit des Ammianus nicht gebräuchlich, welche Satzstellungen ungewöhnlich oder welche Titularien nicht verwendet worden waren. Im Vergleich dazu hatte er sogar die echten Schriften des Ammianus analysiert, sodass kein Raum für Zweifel blieb. Da der Professor wusste, dass davon einmal alles abhängen würde, hatte er von jeder Seite des angeblich alten Fragmentes eine winzige Probe genommen und sorgfältig in Seidenpapier eingeschlagen archiviert. Zu jeder einzelnen Probe fand sich das Messprotokoll der chemischen Analyse, welche die Beschaffenheit von Papier und Tinte sowie deren Verbindungsgrad bis ins letzte Detail aufschlüsselten. Das Ergebnis war vernichtend: Zwar war die Fälschung mit altem Papier und einer Tinte, die der spätantiken Rezeptur täuschend ähnlich war, hergestellt worden, die Verbindung von Papier und Tinte aber war nicht älter als fünfzig Jahre. Ein Meister hatte die Fälschung hergestellt, und so sehr der Professor dessen Fertigkeit bewunderte, so bewusst war ihm, wie gefährlich solch ein Fälscher war. Hastig holte er das Kruzifix aus dem doppelten Boden, das er dort seit dem Tod seiner Frau versteckt hielt. Er zog den als Nagel getarnten Schlüssel heraus, öffnete den doppelten Boden des Fatschenkindes und holte den Abschiedsbrief seiner Frau heraus. Dann brachte er den Schrein zurück, verschloss das Geheimfach sorgfältig und stellte auch die Bücher in die Reihe.
Er fiel in den Sessel und begann, den Brief zu lesen, die letzten, unvollendeten Zeilen seiner Frau, das Einzige, was ihm von ihr geblieben war. Alles, außer der Erinnerung, vor langer Zeit einmal glücklich gewesen zu sein.
Mein lieber Ernst,
nach all unseren Jahren fällt es mir schwer, Abschied von Dir zu nehmen. Ich war oft sehr traurig wegen Dir, zu lange habe ich gehofft und gebetet, dass alles wieder gut wird. Wenn ich aber ehrlich zu mir selbst bin, dann ahnte ich es von Anfang an. Unser Glück war zu groß. Ich wusste es seit jenem verhängnisvollen Tag, an dem Du noch so viel mehr verloren hast, als ich. Nur mein Körper ist krank und welkt vor der Zeit, vergiss das nicht.
Ich war versucht, Deiner Forderung zu folgen, mich Deinem Willen zu beugen und mir helfen zu lassen. Doch nicht nur der Arzt, sondern vor allem Dein Bruder, Konstantin, versicherten mir, dass alle Maßnahmen nur einen Aufschub aber keine Heilung bringen würden. So habe ich mich entschieden, mein Schicksal anzunehmen. Unser Schicksal annehmen, das müssen wir alle. Ich wünsche mir so, dass auch Du das könntest. Von allen meinen Schmerzen ist dies mein größter. Ernst, als ich noch lebte, gelang es Dir immer wieder, mich anzustecken mit Deiner Zuversicht und Gewissheit, dass es gut, gerecht und wahr sei, was Du tust. Jetzt, da ich sterbe, stehe ich vor Gott und bete zu ihm, dass er Dir vergeben möge.
Es wird ein schweres Weihnachtsfest, ohne mich, besonders für unsere kleine Julia. Wo alle Kinder auf der Welt beschenkt werden, nimmt Gott, unser aller Vater, ihre kranke Mutter zu sich. Ich fürchte mich sehr davor, mir ihre Tränen vorzustellen. Und doch bleibt mir der Glaube an die Menschwerdung des Gottessohnes, seine Barmherzigkeit und die Erlösung, die uns durch ihn zuteil werden wird. Denn
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