Die Aufrichtigen (German Edition)
nicht endlich deinen Streit mit Konstantin begraben? Wer weiß, vielleicht kann man ihn ja vor einer großen Dummheit bewahren.«
Der Professor zog blitzschnell seine Hand zurück.
»Mit Konstantin?«, rief er. »Niemals, du weißt, was er mir angetan hat.«
Dr. Albertz seufzte.
»Ich muss gehen«, sagte der Professor. »Ich habe noch etwas zu besorgen.«
»Soll ich dich begleiten?«, fragte Dr. Albertz.
Der Professor schüttelte den Kopf.
»Diese Sache muss ich alleine tun. Diesmal kannst du mir nicht helfen. Es ist besser, wenn wir morgen noch einmal über alles reden. Es bleibt doch dabei?«
»Sicher«, nickte Dr. Albertz müde, »sicher, morgen gegen Mittag in der Kanzlei. Ich werde es nicht vergessen.«
Der Professor verließ den kleinen Raum ohne ein weiteres Wort. Dr. Albertz vergrub sein Gesicht in den Händen. Dann stand er auf und trat hinaus. Die Sonne stand schon sehr tief. Ein rötlicher Schleier umgab sie und tauchte den Zierkirschenbaum im Garten des Kreuzganges in ein sanftes Licht. Dr. Albertz sah ihn an und lächelte melancholisch. Er ging zu dem Baum und setzte sich auf die Bank darunter. Er steckte den Zettel in seine Brieftasche zurück und hielt sie noch eine Weile unschlüssig in den Händen. Dann holte er ein Stück altes Papier heraus.
Du warst die Sonne meines kalten Herzens, der warme Hauch, der mich lebendig hielt. Nie werde ich verwinden, dass Du mit mir nicht sein kannst. So tieftraurig war ich vielleicht noch nie, weil mit der zu spät entdeckten großen Liebe meines Lebens, auch jede Hoffnung schwindet, irgendwann einmal in Deinen Armen einfach nur ganz weich und glücklich zu sein. Doch das alles ist nur Eitelkeit und Eigensucht! An Dich muss ich denken, an Dein Glück – und deshalb, auch wenn mein Herz dabei bricht, lasse ich Dich gehen, denn Du hast Besseres verdient als mich.
Es war der Abschiedsbrief, den sein Vater an die rehäugige Stenotypistin, Dr. Albertz‘ Mutter, geschrieben hatte, nachdem sie ihm eröffnet hatte, dass ihre gemeinsame Entgleisung nicht folgenlos geblieben war. Es war das einzige Schriftstück, das Dr. Albertz von seinem Vater besaß. Er trug den Brief bei sich, seit er ihn als junger Mann unter den Papieren seiner Mutter gefunden und an sich genommen hatte. Manchmal las er ihn. Manchmal, wenn er den Makel seiner Herkunft besonders fühlte. Sein Vater, der alte Narr, hatte sich, als er bereits in die Jahre gekommen war, unsterblich in eine seiner Angestellten verliebt, die sich erst zögernd, dann aber mit Haut und Haaren auf ihn einließ, in dem mädchenhaften Glauben, die eine Ausnahme unter den Vielen zu sein, die eine, bei der das Unmögliche wahr würde. Dr. Albertz konnte es sich vorstellen: Er erfährt von der Schwangerschaft und ist davon überzeugt, mit dieser rehäugigen Stenotypistin ein ganz neues, freies und reines Leben zu beginnen. In der Glut dieses Traumes nimmt er sie noch einmal, sie gibt sich ihm hin, ein allerletztes Mal und stellt sich dabei vor, wie es ist, als ehrbare Frau genommen zu werden. Zu Hause hält der Entschluss des Fabrikanten an, ein paar Stunden vielleicht. Nach dem Abendessen, das er zusammen mit seiner Frau und den beiden Söhnen einnimmt, erinnert er sich aber an seine Pflichten, die Verantwortung, die er trägt. Er entscheidet sich, der rehäugigen Stenotypistin nicht länger sich selbst, den verderbten Wüstling, zuzumuten, sondern ihr stattdessen eine stattliche Apanage zu bezahlen, um die Folgen dieser etwas billigen Liaison so gut als möglich abzumildern. Er schickt sie außer Sichtweite, in einen Kurort im Berchtesgadener Land und schreibt diesen Brief dazu, wonach er sich sehr viel besser fühlt. Am Anfang trinkt er ab und zu ein wenig zu viel oder lenkt sich mit Prostituierten ab. Bald wird es besser und irgendwann denkt er fast gar nicht mehr daran. Und als der kleine Maximilian alt genug ist, nimmt er ihn der Mutter weg und lässt ihn in den besten Internaten erziehen.
»Vielleicht ist es aber auch ganz anders gewesen«, sagte Dr. Albertz und erhob sich von der Bank.
Die Sonne stand nun genau über dem Dach des Kreuzganges. Ob seine Mutter all die Jahre auf ihn gewartet hatte, in der Hoffnung, dass er doch noch kommen und sein Versprechen einlösen würde? War sie deshalb so verhärmt gewesen? Er blinzelte und strich sich über das Auge. Doch es war gar nicht die Sonne, die er aus dem Auge wischte, es war die eine Träne, die eine einzige Träne, die er dafür übrig hatte. Nachdem er den
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