Die Aufrichtigen (German Edition)
Brief wieder zusammengefaltet hatte, betrachtete er ihn eine Weile. Dann zerriss er ihn in kleine Stücke und warf die Fetzen in die Luft.
Feria quarta, 0 Uhr 48; der Becher
Endlich war es so weit: der Wahnsinn hatte ein Ende. Erschreckend klar für einen alten Mann, der nicht mehr Herr seiner selbst war. In seinem düsteren Zimmer, das ihn schon so lange Zeit vor der eigentlichen Welt verborgen hielt, würde es geschehen. Der Schmerz darüber war abgeklungen, das Mulmige im Herzen verschwunden. Nach der Ehre hatte er auch den letzten Rest Selbstachtung verloren, an jener Säule im Bahnhof, wo seine Notdurft stärker, seine Furcht beherrschender gewesen war, als sein Geist, den er einst zu Allem im Stande wähnte. Welch lächerlicher Irrtum, welch bittere Selbstüberschätzung! Was ist der Mensch? Tatsächlich gab es einmal eine Zeit, in der er Alles für möglich, Alles für machbar gehalten hatte. Doch er erinnerte sich nur noch schwach an ihr Hochgefühl, schwach und mit demselben Überdruss, mit dem er in seiner Studienzeit die unterschiedlichen Keilformen der Steinzeitwerkzeuge auswendig gelernt hatte. So viel getan und nichts erreicht! Jetzt gestattete er sich kein Trugbild mehr. Wenigstens diese allerletzte Stunde verdiente ein wenig Würde.
Sein Feldzug gegen die Kirche und die gefälschte Religion nährte all die Jahre nur die schmerzliche Gewissheit, dass er so nicht leben konnte. Das Leben ohne Gott war ein Leben ohne Liebe und ohne Bedeutung. All die Jahre, die nutzlosen Jahre hatte er nichts anderes getan, als sich vor dieser Gewissheit zu verstecken. Jetzt hatte Gott ihn eingeholt und dem unbesiegbaren Fuchs doch noch eine Falle gestellt. Müde war der Fuchs hineingelaufen, zahm und all der Schläue überdrüssig. Doch dass sich Scheitern so schmachvoll anfühlt, das hätte er nicht gedacht.
Der Professor erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und ging zu dem kleinen Tischchen neben der Tür, auf dem die braune Flasche stand. Er strich bedächtig mit der Hand darüber, als liebkose er ein vertrautes Wesen. Ein Lächeln brachte er nicht fertig, Tränen fand er keine. Sein Blick streifte über die Bücher in den Regalen. Das war seine Welt gewesen. Kopfschüttelnd verbot er sich die gefühligen Gedanken. Nun hieß es handeln, endlich etwas tun, einen neuen Schritt wagen und sich selbst überzeugen. Wenn es dort etwas auszurichten gab, so musste er selbst es erledigen. Längst schon hätte er das tun müssen, statt sich hinter all den leeren Büchern vor dem Unausweichlichen zu verstecken. In diesem beherzten Moment trat er energisch vor seinen Schreibtisch, öffnete die Flasche und goss ihren ganzen Inhalt in den Becher aus Ton, den er beim Herrenmahl mitgenommen hatte. Sicher, auch ein gewöhnliches Glas hätte seinen Zweck erfüllt. In solchen Dingen aber war der Professor Genauigkeit gewöhnt. Dem Wort entsprechend musste es also durchaus ein Becher sein. Und welcher wäre besser geeignet, als dieser hier, den er seinem Bruder heimlich fortgenommen hatte? Die Flüssigkeit verströmte einen beißenden Geruch.
Freilich war es Unsinn, auch nur für möglich zu halten, der Papst könne tatsächlich Macht und Möglichkeit besitzen, den Limbus abzuschaffen. Dies war ebenso anmaßend wie die Vorstellung, Gott hätte nichts Besseres zu tun, als ständig nach den sündigen Gedanken eines jeden Menschen zu forschen. Wie sehr musste der Mensch sich für den Mittelpunkt des Universums halten, um zu fürchten, gerade sein armes Seelchen würde just in dem Moment von Gott erforscht, in dem es sein albernes Sündchen begeht. Wie viel schrecklichere Gedanken hat doch Gott, wie viel Unaussprechliches wohnt in einem Wimpernschlag dieses Unfassbaren! Nicht einmal den äußersten Zipfel dieses Schreckens, dieser Erschütterung bis ins Mark, vermochte ein Mensch zu ertragen. Was redete er da von Gott! Schaffte der Papst den Limbus ab, um Gott in ein milderes Licht zu rücken? Sicherlich, seine Entstehung mag tausendfach lächerlicher sein, als sein Verschwinden. Doch mit dem Fortfall des fassbaren Bildes gewann das Entsetzen über das Unfassbare Raum. Wo ist Mariechen, wenn es den Limbus nicht gibt? Wo ist Mariechen, wenn es Gott nicht gibt? Wo ist die geliebte Frau? Sind sie etwa wirklich tot? Für immer tot? Es blieb nichts: Er musste jeden Zweifel ausschließen.
Ohne den Becher eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er hinüber zum Bücherregal und nahm aus der Mitte ein paar schwere Bände heraus. Sie trugen
Weitere Kostenlose Bücher