Die Aufrichtigen (German Edition)
kam der bald unverhohlene Vorwurf seiner Frau. Nach dem Tode Mariechens war auch seine Ehe, seine Liebe nicht mehr dieselbe. Seine Gattin verbot es ihm, sie zu berühren, so glühend seine Lust, so heiß ihr Begehren auch sein mochte. Durch den Tod des kleinen Mädchens erlosch ja nicht ihrer beider Liebe und endete nicht ihr Verlangen. Aber sie verbot es sich und ihm, der Neigung nachzugeben. Sie sah darin den ersten, kleinsten Schritt der Buße. So wurde die einst große Erfüllung durch Liebe zur unerfüllten großen Liebe. Und doch war sie ein Hoffnungskeim, ein Funken Zuversicht. Nach dem Tod der Frau blieb dem Professor nicht einmal mehr das. Es fehlte ihm an Größe, in der Hinwendung zu Julia Halt und Trost zu suchen. Statt dessen wählte er die Einsamkeit, hüllte sich in Melancholie und raubte damit auch noch dem lebenden Kind den Vater. So hatte jeder jeden verloren. Am verlorensten aber war er selbst, da er den Toten näher stand, als den Lebenden. Wie willkommen schien da das Angebot dieses öligen Dominikaners von der Propaganda Fide, mit dem Gefälligkeitsgutachten das Werkzeug in die Hand zu bekommen, mit dem sich das verlorene Leben mit einem Mal umkehren und zum Guten wenden ließ. Natürlich erkannte er, dass dieser Ausweg nichts als Heuchelei war. Doch er folgte dem Dominikaner bereitwillig und voll innerer Freude. Er konnte nichts dagegen tun. Auch er wollte endlich verführt sein, verspürte die Erleichterung des Betrogenen, die ganze Süße des Dämmerns. Er sah die Falle, erkannte sie, ging freudig hinein und genoss es, endlich gefangen zu sein. Doch anders als der Schlafende, der niemals Erwachte, anders als der Betrogene, der nur die Dämmerung kennt und nicht das Sonnenlicht, konnte der Professor die Falle nicht lange ertragen. Die Freude hatte einen allzu schalen Beigeschmack.
Die Propaganda Fide bestand nicht einmal darauf, dass Professor Spohr von seinen Werken öffentlich Abstand nahm. Schließlich war er nur ein alter Mann. Die katholische Kirche aber war älter, viel älter. Sie würde auch ihn überstehen. Dass er in ihren Schoß zurückkehrte, genügte der guten Mutter. Welche Mutter denkt an Entschuldigung, wenn das verirrte Kind heimkehrt? Das Herz ist alles, es sehnt sich nach der Heimkehr. Der Verstand ist nichts. Die Taufe als Instrument der vermeintlichen Vergebung, das in der Beichte erneuert wird, war das zentrale Machtmittel einer Religion, die ihren Einfluss auf die Inszenierung des allzu Menschlichen als Sünde baut. Offenbar barg die Aussicht auf Vergebung eine so unglaubliche Verlockung, dass die Menschen bereit waren, selbst die aller schlimmsten Verbrechen zu vergessen. Dieser Verlockung war der Professor selbst erlegen. Er konnte weder das falsche Gutachten revidieren, noch wollte er die erheuchelte Taufe empfangen. Man hatte ihm keinerlei Ausweg gelassen. Alles, was er jetzt tun würde, könnte ihn nur lächerlich machen. Man hatte ihn an die Wand gespielt, gezielt seine eigentliche Schwäche ausgemacht und ihn damit zu Fall gebracht. Das war nach dem Geschmack der Kirche, die er kannte.
Schwer atmend erhob er sich, um zur Vollendung seines Werkes zu schreiten. Es war sein letzter Wille, sich als Opfer eben jener Macht zu inszenieren, die er sein halbes Leben lang bekämpft hatte. Zuerst öffnete er die unterste Schublade seines Schreibtisches. Unter all den Papieren kramte er den Beschluss des obersten Kirchengerichts hervor, der das Interdikt aufhob und den Weg zur erneuten Taufe freigab. Er entfachte ein Streichholz und hielt es an die untere Ecke des Schreibens. Über einem Teller, den er für diesen Zweck bereitgestellt hatte, ließ er das Papier verbrennen. Dann zerstieß er die Asche mit dem Fuß des Bechers, sorgsam darauf bedacht, keinen Tropfen der bitteren Flüssigkeit zu verschütten. Er tat es mit Genugtuung, mit einer Art Selbstzufriedenheit.
Wie gerne hätte er Julia von der kleinen Schwester erzählt und persönlich Abbitte geleistet. Sie hatte sich für ihr Leben, ihren Mann, ihre Kinder entschieden und im Grunde war der Professor stolz auf sie. Denn es bewies, dass sie nicht wie er war, dass sie nicht denselben unverzeihlichen Fehler machen und die Kinder der eigenen Arbeit unterordnen würde. Wie hätte er ahnen sollen, wie schwer doch am Ende alles würde!
Auf dem Häuflein Asche entzündete der Professor zwei Kegel Weihrauch, die er tags zuvor in Mainz beim Devotionalienhändler erworben hatte. Danach fühlte er sich schwach, so schwach,
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