Die Aufrichtigen (German Edition)
nicht! Aber wenn wir nun wissen, wozu die Religion die Menschen bringt, dann frage ich mich einfach, ob wir damit weitermachen dürfen, als sei nichts geschehen, als sei das alles im Grunde ganz in Ordnung. Seit wieviel zigtausend Jahren schlachten sich die Menschen wegen ihrer Götter ab? Wie viele Chancen will man der Religion denn noch geben, der Welt die Liebe und den Frieden zu bringen? Wir brauchen keinen Gott für die Liebe.«
»Du bist süß, Sophie. Weißt du eigentlich, dass du rote Backen kriegst, wenn du dich aufregst?«
»Aber Leo«, sagte Sophie unwillig.
»Nein warte«, unterbrach er sie. »Du bist so tough gewesen im Büro des Paters, in der Krypta. Wenn man dir zusieht, hat man den Eindruck, dass dir nichts etwas ausmacht. Aber ich kenne dich besser. Du trägst deinen Schneid wie einen Schild vor dir her, damit niemand deine empfindlichen Träume sehen kann. Für mich bist du wie ein kleines Mädchen, das am Zaun steht und auf einen Ritter wartet. Warum hast du dir ausgerechnet mich ausgesucht?«
Sie küsste ihn auf die Stirn.
»Das mit dem Ritter ist Unsinn«, flüsterte sie, »aber du bist einer, auf den man sich verlassen kann.«
Leo lächelte.
»So etwas Schönes hat mir noch nie jemand gesagt.«
»Du bist nicht wie die anderen. Das liebe ich an dir. Komm jetzt, lass uns gehen.«
»Vielleicht hast du Recht, und ein Leben ohne Religion ist gar nicht so schwierig«, begann Leo, als sie Arm in Arm weiter spazierten.
»Wie meinst du das?«
»Nimm dir ein anderes Beispiel«, antwortete er. »Die Natur sagt doch, dass wir uns fortpflanzen sollen, nicht wahr?«
Sophie lachte.
»Nein, im Ernst, so ist es doch! Dennoch schlafen wir nicht wild durcheinander und paaren uns mit allem, was uns über den Weg läuft.«
»Untersteh‘ dich!«
»Im Gegenteil: wir binden uns an einen einzigen Menschen, manchmal ein Leben lang, für immer.«
Sophie hörte auf zu lachen.
»Tun wir das?«
»Wir haben es in der Hand, wir können den Höhlenmenschen in seine Schranken weisen! Es gibt keinen Grund, an Gott zu glauben, nur weil man uns das so beigebracht hat.«
Sophie schien ebenso erleichtert, wie enttäuscht.
»Das verlangt doch keiner,« sagte sie.
»Was haben wir schon zu verlieren?«, rief Leo euphorisch.
In diesem Moment hielt er alles für möglich.
»Leo,« sagte Sophie nach einer Weile.
»Hm,« brummte er, noch immer in Gedanken.
»Wie hast du das gemeint?«
»Was denn?«
»Dass wir uns manchmal für immer an einen einzigen Menschen binden?«
Leos Herz raste. Er zog Sophie an sich und ging mit ihr den nächsten Schritt.
Epilog
Julia saß in eine Wolldecke gehüllt auf der Terrasse und entschied, den Brief ihres Vaters nicht noch einmal zu lesen. Irgendwann, nach dem fünften oder sechsten Mal, tat es nicht mehr so weh, irgendwann verschwammen diese kleinen, langgezogenen Buchstaben.
Sie hatte an diesem Morgen länger geschlafen und den Frühstückstisch gedeckt gefunden, mit Blumen und frisch gepresstem Orangensaft. Ihr Mann und die Kinder waren weggegangen, ins Schwimmbad, las sie auf einem Zettel. Sie würden sicher nicht vor dem Abend zurück sein. An diesem Morgen würde es also geschehen. An diesem Morgen würde sie die Kraft finden, das Vermächtnis ihres Vaters zu lesen, ein neues Werk über die Herkunft, die Wirkung und die Zukunft der Religion, wie er schrieb. Teile davon hatte sie überall auf ihrem Weg gefunden. Wollte sie sein Werk aufnehmen, es vollenden, so würde sie es mit ihren eigenen Worten tun müssen, mit einer Sprache, die es noch zu finden galt. Denn bis zu jenem Karsamstag in der Katakombe war sie nichts als seine Tochter gewesen.
Ihre Mutter, ihre Schwester und ihr Vater waren tot, gestorben im Zeichen eines Glaubens, der auf Kummer beruht. Sie wusste nun, dass es letztendlich nicht genügen würde, diesen Glauben respektvoll zu meiden. Man musste sich gänzlich davon befreien, wollte man das Leben seiner Kinder nicht gefährden. Ihr Vater, ihre ganze Familie und auch sie selbst hatten diese Erkenntnis teuer bezahlt. Eine merkwürdige Befreiung, die nichts als Trauer mit sich brachte. Bis zum Abend waren es viele Stunden, Zeit genug, die Papiere zu studieren und einen Entschluss zu fassen. Dann würde ihr Mann zurückkehren, mit den fröhlichen Kindern, voll von dem kleinen Abenteuer, voll von Liebe und Tatendrang. Sie würden ihr alles erzählen, und jeder würde versuchen, den anderen in seiner Schilderung zu übertreffen. Dann würde er sie in den Arm
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