Die Aufrichtigen (German Edition)
eine wahrhafte Stütze können mir die Menschen nicht mehr geben. Auch Du nicht, mein lieber Mann.
Als Mutter Deiner Tochter wage ich zu sagen, dass es nicht recht von Dir war, unserem Kind die religiöse, die seelische Heimat zu verwehren. Es ist die Pflicht der Eltern, die Neugeborenen sofort taufen zu lassen, damit sie Anteil haben können am ewigen Heil. Du weißt selbst, wie schnell es gehen kann. Dann ist es für immer vorbei. Die Kinderseelen sind so hungrig und aufnahmefähig, sie sind aber auch schnell zu Abwegen bereit. Dass unsere Julia nicht zur Gemeinschaft gehören soll, tut mir weh. Versprich mir, dass nicht ausgerechnet Du eine besondere Erziehung erfinden wirst! Wir Menschen leben in einer Jahrhunderte alten Tradition. Du bist ein kluger Mann, Ernst, aber Dir fehlt die Demut. Die weisen Männer aus dem Morgenland sind dem Stern gefolgt und haben das Gotteskind in der Krippe gefunden. Welchem Stern folgst Du, mein Lieber, wenn ich nicht mehr bin und auf Dich achte? Dass es auch Dich anlächeln möge, das Jesuskind, das wünsche ich Dir von ganzem Herzen. Hör nur richtig hin, dann wirst Du die wahre Botschaft finden. Du brauchst sie nicht zu suchen, sie kommt auf Dich zu, wenn Du es zulässt. Glaube daran, mein Lieber, glaube.
Ich kann mich nicht darüber trösten, dass wir uns dereinst, wenn alle Menschen vor ihren Richter treten, nicht wiedersehen werden. Ich weine oft darüber, dass Du diese Gnade verloren hast und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen worden bist. Noch mehr weine ich aber über unsere Tochter, die ohne Schuld den Weg zum Himmelreich nicht finden kann.
So muss ich doch sterben, für Dich, für sie, voller Glauben, weil ich fühle, dass ich meinem Herzen folgen muss, wenn er ruft. Seit ich Dich sah, kann ich nicht mehr von Dir lassen, Ernst, mein lieber Gatte, kehre um, damit wir uns nicht verfehlen.
Ohne es rechtzeitig zu ahnen, hatte er dem Kruzifix sein ganzes Leben gewidmet. Vielen anderen war seine Arbeit wie ein Feldzug dagegen erschienen, ein Krieg gegen die Kirche und den Glauben. Warum hatte keiner bemerkt, dass Professor Spohr nichts anderes suchte, als die wahre Botschaft Christi? Mit Aufrichtigkeit und historischer Akribie war er dabei vorgegangen, davon überzeugt, dass die Wahrheit sich schon fände, wenn nur genug Falsches aufgeklärt würde. Darüber hatte er sich verloren und verkannt, dass die Wahrheit nicht gefunden, sondern angebetet werden will. Denn die Wahrheit ist nichts weiter, als der Glaube an ihre Heiligkeit.
All die einsamen Jahre seines Forschens hatten nicht vermocht, die Trauer über den Verlust seines kleinen Mädchens zu lindern. Dass Mariechen gestorben war, hatte er zu verantworten, auch wenn er keine Schuld daran trug. Erst allmählich konnte er diesen Zusammenhang begreifen, dieses Verhängnis, dem niemand entrinnt, am wenigsten, wer glaubt, gut und gerecht zu handeln. Den Tod seiner geliebten Frau dagegen begriff er bereits als Konsequenz dieser Verstrickung; sie war gestorben aus Gram über das tote Kind, wegen der bitteren Enttäuschung über ihren Gatten. Dabei wäre es doch gerade an ihm gewesen, die junge Familie vor Unheil zu schützen, an ihm wäre so vieles gewesen – und doch war auch er nur ein Mensch! Grund genug also, enttäuscht zu sein. Wahrscheinlich hatte wirklich nur sie verstanden, dass er ein Suchender war, wie sie so treffend geschrieben hatte. Er war nie zufrieden, fand auch dann noch etwas heraus, wenn alle anderen bereits das Ende der Erkenntnis beschworen. Nicht weil er schlimmer zweifelte als die anderen, sondern weil seine Sehnsucht tiefer war. Diese Sehnsucht hatte kein Ziel gefunden. In dieser allerletzten Stunde gab es keine andere Einsicht, als dass am Ende seiner Suche Nichts war. Nichts! Keine Botschaft, keine Wahrheit. Nichts als der immer neue Kreislauf von Vermutungen, Postulaten oder Glaubenssätzen, die sich allesamt darin übertrafen, den Anschein der Ursprünglichkeit, der Originalität zu erwecken. Und je besser die Täuschung, so schien es, desto infamer der Beweggrund des Täuschenden. Hatte er das nicht schmerzlich am eigenen Leib erfahren müssen?
Vor so vielen Jahren verlor der Professor durch die Exkommunikation den Anteil am Himmelreich. Er begriff sofort, dass dies nicht erst eine ferne Zukunft betraf, ein Schicksal, das einen erst mit dem Tode ereilt. Er verlor sofort und tatsächlich sein persönliches Himmelreich, wurde aus seinem Paradies vertrieben. Zu der unüberwindlichen eigenen Trauer
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