Die Aufrichtigen (German Edition)
Genugtuung darüber, dass Leo Blum nun endlich seine wahren Qualitäten zeigte und die Initiative ergriff. Er sah sich in seiner Überzeugung bestätigt, dass letztlich jeder richtige Mann irgendwann das Leben an sich reißen würde. Es war nur eine Frage der Zeit.
Auf seinem Schreibtisch lag die Akte mit dem Brief in der altdeutschen Handschrift obenauf. Dr. Albertz ließ sich in seinen Sessel fallen, schob die Akte weg und vergrub das Gesicht in den Händen. Ein Seufzen entwich ihm. Es klang wie der Schmerz einer lange schon schwärenden Wunde, die sich mitleidlos ins Bewusstsein zurückdrängt.
»Mein Gott, Ernst, wie konnte es nur soweit kommen?«, sagte der Anwalt zu sich selbst.
Es hatte doch keinen Zweck, er würde den Brief sowieso lesen. Das hätte er schon am Nachmittag tun sollen, als er die Akte aus der Ablage geholt und im Safe eingeschlossen hatte. Absurd zu glauben, sich das ersparen zu können. Es war die schnörkelige Schrift des Professors, die er schon als Junge bewundert hatte.
Lieber Max, mit Marie habe ich alles verloren, woran ich jemals glaubte. Ich weiß, dass sie nicht gestorben ist, weil ich Unrecht hatte. Das Dekret erhielt ich unverdient. Ich hatte nie Anlass an Dir zu zweifeln und es wäre nicht gerecht, Dich mit meinen schlimmen Gedanken zu beleidigen. Mein Leben ist von nun an ein anderes. Bei allem Schmerz tut es wohl zu wissen, in Dir einen treuen Gefährten zu haben. Für immer der Deine, Ernst
Für einen kurzen Augenblick spürte Dr. Albertz etwas Feuchtes in seinem Auge. Er blinzelte und wischte es mit dem Handballen weg. Er wollte es aussprechen, laut hinaus schreien, was er all die Jahre sich und der Welt verschwiegen hatte.
»Ich war es, ich! Verstehst du denn nicht? Ich habe das sehende Auge zugedrückt. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es nicht in seine Hände legen dürfen.«
Dr. Albertz stieß die Akte von sich und sprang auf. Er ging zum Regal, öffnete eine Tür und holte, was er sich nur selten gestattete, eine Flasche alten schottischen Whisky heraus. Er goss einen winzigen Schluck in ein Glas und trank in einem Zug. Der Whisky brannte heiß in der Kehle. Dr. Albertz unterdrückte das Husten. Dann goss er noch einmal nach, stellte die Flasche weg und trat an das verhangene Fenster. Dort zog er den Vorhang einen Spalt zurück und blickte gedankenverloren hinaus auf die beinahe menschenleere Leopoldstraße, bis das Bild vor seinen müden Augen verschwamm.
Als Frau Magdalener den Geistlichen vor fast dreißig Jahren anmeldete, drapierte Dr. Albertz ein paar Akten auf seinem Schreibtisch, damit es so aussah, als habe er sich gerade noch wichtigen Angelegenheiten gewidmet. Das Büro wirkte diskret zurückgenommen, unauffällig und ein wenig zusammengewürfelt. Nicht schlecht gewählt für einen jungen Anwalt, der gerade im Begriff war, sich einen Namen zu machen. Doch Dr. Albertz war solche rechtfertigenden Betrachtungen Leid, er wollte Eindeutigkeit, alle Zweifel ausräumen und endlich viel Geld ohne riskante Mandate verdienen. Er hatte es satt sich zu verbiegen, mit Leuten zu reden, die ihn langweilten. Er wollte ganz nach oben, um dann — was wollte er dann? Seinen Frieden finden, zufrieden sein? Lächerlich! Er wollte nur ganz oben sein, weil er dort hingehörte, weil er sich zu gut war für jede Stufe darunter. Es gab Herrscher und Beherrschte, Sieger und Verlierer. Für die Zwischentöne interessierte er sich nicht, Kompromisse lehnte er ab. Es ermüdete ihn, den Leuten nicht einfach die Wahrheit sagen zu können, seine Wahrheit, wie er es sich vor knapp einem Jahr, an seinem dreißigsten Geburtstag vorgenommen hatte. Noch konnte er sich das nicht leisten. Noch nicht!
Nachdem er noch einen dicken Kommentar aufgeschlagen hatte, verließ er energisch sein Büro und ging in den kleinen Empfangsbereich. Dort saß der hochgewachsene Mann im geistlichen Ornat, der in eine Zeitschrift vertieft zu sein schien. Dr. Albertz ging auf ihn zu und verkniff sich ein Lächeln. Es fehlte ihm an Respekt, und er konnte nicht verstehen, warum ernsthafte Männer, wie es Kleriker nun einmal waren, sich mit all dem religiösen Schnickschnack befassten. Je intelligenter er einen Menschen einschätzte, desto mehr wünschte er sich bei ihm ein Augenzwinkern, diesen feinen Unterton.
»Grüß dich, Konstantin.«
Der Geistliche zog die Augenbraue hoch.
»Oder muss ich wirklich Pater Donatus sagen?«
Pater Donatus trug diesen Namen seit seiner Profess. Er war seit einiger Zeit
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