Die Aufrichtigen (German Edition)
den noch Radikaleren und so fort, bis – ach, ich weiß nicht bis wohin.«
»Das klingt nach Religionsevolution«, sagte Dr. Albertz, »findest du nicht? Der kleinere Unsinn wird vom größeren Unsinn verspeist, so lange bis es nur noch riesengroßen Unsinn gibt, den maximal möglichen. Möchte wissen, auf welcher Stufe der Leiter wir uns gerade befinden.«
»Du findest das vielleicht komisch, aber du übersiehst dabei das Fatale! Die Religion ist ja selten die aktive Kraft bei dem Spiel, sie ist vielmehr die geistige und kulturelle Basis der Handelnden. Jede Zeit hat ihre Chancen, ihr spezifisches Wissen und bringt Menschen hervor, die das Ruder an sich reißen. Es ist falsch, dass wir Geschichte nur an den großen Einzelnen festmachen. Auch der noch so große Einzelne vermag nichts gegen die Rahmenbedingungen seiner Epoche. Wer gegen seine Epoche arbeitet, nennt man nicht Geschichtsträger, sondern bestenfalls Visionär, normalerweise aber Narr.«
»Und was hat das mit der Religion zu tun?«, fragte Dr. Albertz.
»Ganz einfach, Max. Der Mensch ist darauf angelegt, sein Verhalten vor sich und den anderen zu rechtfertigen. Er entstammt einer Herde, wenn du mir diesen Vergleich gestattest, die nach bestimmten Regeln lebt. Will er sich selbst als Führer ansehen, will er von den anderen als Führer anerkannt werden, so muss er sich und seine Absichten rechtfertigen und andere Führer und andere Absichten übertreffen.«
»Oder beseitigen«, lachte Dr. Albertz.
Der Professor sah ihn vorwurfsvoll an. Dr. Albertz biss sich auf die Lippe.
»Dabei hilft ihm die Religion, der Glaube an Gott gibt ihm Kraft, lässt ihn sich selbst als Auserwählten erscheinen, gibt ihm die Legitimation, mit bestehenden Regeln zu brechen.«
»Und die Gläubigkeit der anderen,« unterbrach ihn Dr. Albertz, »hilft ihm dabei, sich durchzusetzen, weil man mit Religion die Vernunft außer Kraft setzen kann. Deshalb vermählen sich die Herrscher doch so gern mit den Pfaffen. Das weiß ich längst, also bitte komm auf den Punkt.«
»Ein Herrscher kann nur ernten, was auf dem Boden, den er vorfindet, fruchtbar gedeiht«, setzte der Professor von Neuem an.
»Dann ist die Religion«, unterbrach Dr. Albertz wieder mit einem Grinsen, »dann ist die Religion also der Dünger, nicht wahr?«
»Kannst du einmal ernst bleiben, wenn ich mit dir spreche?«, fragte der Professor verstimmt.
»Bitte verzeih‘, aber das Bild ist einfach zu schön, findest du nicht?«
»Da sich meist der radikalere Herrscher durchsetzt, ist es auch das radikalere Gedankengut, das die geschichtlichen Ereignisse übersteht und allmählich das gemäßigtere Gedankengut verdrängt.«
»Die herrschende Religion ist also die Religion der Herrschenden?«
»Jedenfalls, wenn man die Sache stark vereinfacht auf den Punkt bringen will.«
»Die anderen Religionen, die nicht herrschende Lehre, zum Beispiel seine Lehre, geht entweder unter oder besteht bei einer Minderheit fort, einzig mit dem Bestreben, irgendwann selbst an die Stelle der herrschenden Lehre zu treten, diese zu übertreffen, sie von der Erde zu vertilgen oder welche andere Redewendung man dafür auch immer üblicherweise gebraucht«, führte Dr. Albertz den Gedanken fort.
»So wie er es erstrebt«, nickte der Professor.
»Ich weiß schon, was du meinst. Du lehnst seine Absichten ab, weil sie nicht besser sind, als die anderen.«
»So einfach ist es nicht«, widersprach der Professor. »Lass ihn einmal beiseite und konzentriere dich auf das Wesentliche. Die Durchsetzung des radikalen Gedankengutes ist in der Geschichte vielfach belegt. Die Eroberung des gelobten Landes durch die aus Ägypten entflohenen Israeliten, die Feldzüge der muslimischen Herrscher, bis hin zu den heutigen islamistischen Regimen. Oder nimm dir den Protestantismus als Beispiel, es gibt kaum einen radikaleren Theologen als Luther. Das ganze Christentum ist so entstanden: aus einer Religion der Minderheit ist die weltumspannende Staatsreligion der westlichen Welt geworden. Um zu überleben, hat das Christentum alles daran gesetzt, sich selbst an die Stelle der damals im römischen Reich herrschenden Religion zu setzen. Die Spätantike bot hierzu einen besonders fruchtbaren Boden. Die Zeit war reif.«
»Die Konstantinische Wende, so nennt man das doch«, warf Dr. Albertz ein.
»Ganz richtig,« erwiderte der Professor, »es war wahrlich eine Wende, eine Wende, die seither die Jahrtausende bestimmt. Wenn meine These richtig ist, Max, und
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