Die Aufrichtigen (German Edition)
Gleichgewicht. Erst wenn man herausfand, dass er im Grunde gar nichts getan hatte und nicht einmal viel wusste, würde man ihn los werden wollen und ihn auf die Straße setzen. Aber was dann? Seine Nerven waren aufgebraucht. Für ihn gab es keinen Ausweg mehr. Er musste so lange wie möglich hier bleiben.
Der Kommissar legte die Füße auf den Tisch und zündete sich demonstrativ eine Zigarette an, die er genüsslich paffte. Leo hatte so etwas schon einmal im Fernsehen gesehen, aber bei diesem untersetzten Mann mit dem schütteren Haar sah es überhaupt nicht cool aus. Er nahm an, dass dies alles Teil der Inszenierung des Verhörs war, mit der er Stück für Stück die Schutzmauer, die ihr Gefangener um sich errichtet hatte, zum Bröckeln bringen wollte. Plötzlich sprang der Kommissar auf und stürzte wie ein Raubtier auf den Jungen zu. Er packte und rüttelte ihn.
»Weißt du was? Ich gehe jetzt schlafen. Ich habe endlos viel Zeit. Wenn du es dir anders überlegst, brauchst du nur zu klopfen. Aber verlass‘ dich drauf, ich komme wieder. Immer wieder. Verstehst du?«
Damit verließ er das Zimmer und warf die Tür so laut in die Angel, dass Maiorinus zusammenzuckte. Auch als er allein war, machte er keine Anstalten, sich zu bewegen.
Als der Kommissar den Nebenraum betrat, drückte er seine Zigarette in einem kleinen Waschbecken neben der Tür aus.
»Ich rauche sowieso zu viel«, sagte er genervt.
Leo bemerkte, wie müde er war.
»Kann ich mich irgendwo ausruhen?«, fragte er einen Polizisten. »Ich werde später weitermachen. Irgendwann packt er aus!«
»Soll ich so lange übernehmen?«, fragte Sophie ihren Chef.
Der sah sie überrascht an, sagte aber nichts.
»Ich würde Leo, ich meine, Herrn Blum, mitnehmen, er ist Anwalt und kennt sich aus«, fuhr Sophie fort. »Wir machen das guter Bulle, böser Bulle Spiel. Sie wissen schon.«
Der Kommissar musterte Leo, der versuchte, ein möglichst gleichgültiges Gesicht zu machen. Dann gähnte er mit offenem Mund.
»Ich weiß nicht, das ist eigentlich nichts für eine Anwärterin.«
»Was soll schon passieren? Sie können jederzeit abbrechen.«
Der Kommissar blies die Luft aus. Sophie ging ihm auf die Nerven.
»Also meinetwegen. Machen Sie, was Sie wollen, ich geh‘ schlafen.«
Sophie strahlte. Sie kannte ihren Chef: In spätestens einer halben Stunde würde er zurück sein. Bis dahin wollte sie ihm ein Geständnis präsentieren.
›Geben Sie den Leuten das Gefühl, dass Sie genauso sind, Blum, so werden Sie ihr Vertrauen gewinnen.‹ Leo erinnerte sich an den Ratschlag des Chefs. Er setzte sich dem jungen Mann gegenüber und betrachtete ihn aufmerksam. Sophie sagte ihren Namen und stellte Leo als ihren Kollegen vor. ›Haben Sie Geduld, Blum, lassen Sie die Leute auf Sie zukommen und belästigen Sie niemand mit Ihrer Meinung. Niemand will Ihre Meinung wissen, jeder will nur die eigene Meinung bestätigt haben.‹ Die Methoden des Chefs waren immer erfolgreich. Den Leuten gut zureden, ihnen Recht geben und dann doch tun, was man selbst für richtig hielt.
»Der Kommissar«, sagte er vorsichtig, weil Sophie zögerte, »hat Sie vielleicht etwas zu harsch angefasst, das müssen Sie bitte entschuldigen. Er kommt Ihretwegen aus München und hat seit einer Ewigkeit nicht mehr geschlafen.«
Leo hielt sich genau an die Regie des Chefs, ein festgefahrenes Gespräch mit einer belanglosen Geschichte wieder in Gang zu bringen. Nach Dr. Albertz Meinung ermutigte das die Leute, über sich zu sprechen. Sophie wollte übernehmen, hielt sich aber zurück, weil der junge Mann sich in seinem Stuhl aufrichtete und den stumpfen Gesichtsausdruck verlor.
»Ich bin der Beste in meinem Jahrgang«, brach Maiorinus tatsächlich sein Schweigen. »Ihr Kollege hätte mich nicht duzen sollen.«
»Wie lange haben Sie noch? Sie sind doch bestimmt bald mit der Schule fertig?«, fragte Sophie und legte ihre Hand auf seinen Arm.
Der Junge sah sie an, sein Gesicht verzog sich. Er schluckte und versuchte vergeblich, die Tränen zu unterdrücken.
»Tun Sie das nicht! Sie haben ja keine Ahnung. Sie haben den Falschen, mehr sage ich nicht.«
Leo ließ sich seine Verwunderung nicht anmerken. Er dachte an die Worte des Chefs. ›Egal, was die Leute Ihnen für einen Unsinn erzählen, Blum, bleiben Sie Herr der Lage. Seien Sie einen Schritt voraus. Tun Sie immer so, als haben Sie längst gewusst, was man Ihnen sagt.‹ Er nickte und suchte den passenden Satz. Immerhin hatte er den jungen Mann
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