Die Aufsteigerin
neuen Kleidungsstücke waren übergroß, und sie lachte, als Denise laut rief: »Ach du Scheiße, ein Waisenmädchen im Sturmgebraus!«
Nach dem Frühstück bekamen sie Aufgaben zugeteilt, und Cathy erfuhr, dass sie zusammen mit Denise den Korridor bei der Eingangstür zu scheuern hatte. Die Arbeit war hart, aber durch die Bewegung wurde ihnen zumindest warm, und das heiße Wasser erwies sich als Wohltat für ihre eiskalten Hände.
Sie unterhielten sich freundschaftlich bei der Arbeit, und obwohl das Schrubben viel Kraft verlangte, hatte Cathy schon bald den Bogen raus. Denise erwies sich als angenehme Gesellschaft und unterhielt Cathy mit schockierenden, aber auch faszinierenden Geschichten und Anekdoten über die Schule.
Plötzlich jedoch verstummte sie. Cathy sah sie an und merkte, dass sich etwas ganz Schlimmes ereignete.
Ein Schatten fiel über sie, und Cathy sah wie gebannt in ein furchteinflößendes Gesicht, wie sie es grauenvoller noch nie gesehen hatte.
Der Mann war groß und so dünn, dass man von ausgemergelt sprechen konnte. Er musste Ende fünfzig oder Anfang sechzig sein, aber das ließ sich schwer sagen, weil sein wuchernder rotbrauner und silbrig melierter Bart praktisch drei Viertel des
Gesichts verbarg. Selbst im schummrigen Licht konnte Cathy erkennen, dass seine Augen stumpf grau waren und die Augenbrauen sich über der Nasenwurzel trafen, was ihm ein bedrohliches Aussehen verlieh.
Am fiesesten waren jedoch seine schlaffen roten Lippen. Cathy sah Speichel in seinen Mundwinkeln, den er unbewusst und wohl schon gewohnheitsmäßig wegleckte.
»Wer bist du denn?«
Seine Stimme klang belegt, als sei er erkältet, aber irgendwie wusste sie sofort, dass er sich immer so anhörte. Es war abscheulich, und Cathy musste erst aufsteigende Galle runterschlucken, bevor sie ihm antworten konnte. Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie sich vor diesem Mann in Acht nehmen musste und dass er eine Gefahr für sie darstellte. Dennoch stand sie auf. Sie wischte sich die Hände an der groben Schürze ab, sah dem Mann direkt ins Gesicht und sagte freundlich, aber bestimmt: »Ich bin Cathy Connor und gehöre hier nicht her.«
Denise schloss vor Schreck die Augen und war sich sicher, dass ein Zornesausbruch folgen musste.
Zu ihrem Erstaunen hörte sie Mr. Hodges leise lachen. »Soweit ich erfahren habe, wird Mrs. Barton dem schon sehr bald abhelfen. Ich erwarte dich heute Abend um sieben in meinem Büro.« Er trampelte absichtlich über den sauberen Fußboden, und Denise seufzte erleichtert, als er fort war.
Cathy sah zu ihr hinunter und sagt freundlich: »Mr. Hodges?«
»Mr. Arschloch Hodges höchstpersönlich«, bestätigte das andere Mädchen. »Heute Abend sag ihm am besten, dass du glaubst, du hast ‘nen Tripper. Er liebt es nämlich, die neuen Stuten einzureiten. Komisch, solche wie mich rührt er nicht an. Es sind kleine so wie du, auf die er steht, dünne kleine mit blauen Augen und Tittchen.«
Sie grinste und wollte einlenken: »Na ja, da hast du ja was, auf das du dich freuen kannst, oder? Ist ja beinahe ein Date, wenn
du so willst.« Sie brüllte vor Lachen über ihren eigenen Witz, und schweigend wischten sie dann den Boden.
Cathy wurde übel, als ihr die Tragweite ihrer Zwangslage bewusst wurde. Sie war vom Regen in die Traufe geraten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und zum ersten Mal seit Jahren sehnte sie sich nach ihrer Mutter. Der Gedanke daran, was Madge für sie getan hatte, belastete sie zusätzlich, und sie wünschte, ihre Mutter noch einmal an ihrer Seite zu haben.
Sie hoffte, dass es Madge besser erging als ihr, wohin auch immer man sie gebracht hatte.
Mr. Hodges ging eine Weile später wieder an ihnen vorbei. Cathy sah seinem mageren Rücken nach und streckte die Zunge heraus. Es war eine kindische Geste und eine sinnlose dazu, wie sie sehr wohl wusste, aber während dieser paar Sekunden fühlte sie sich viel besser.
Kapitel zehn
Harold Peter Hodges war ein Heimlichtuer. Seine Verschlossenheit war ein Charakterzug, dessen er sich bewusst bediente und der ihm sein Leben lang gut zustattengekommen war. Er war zum Direktor der Benton School for Girls aufgestiegen, nachdem er eine Anstalt für junge Straffällige in Dartmouth geleitet und die Jungen dort so erbarmungslos traktiert hatte, dass man ihn kurz vor dem Ruhestand mit der ruhigeren Aufgabe belohnt hatte, einer Anstalt für Mädchen vorzustehen.
Für ihn wurde damit ein Traum wahr.
Mädchen und Jungen eines
Weitere Kostenlose Bücher