Die Aufsteigerin
anzusehen.
Sie hatte innerhalb so kurzer Zeit so viel durchgemacht, dass sie nichts mehr umwerfen konnte. Die Benton School for Girls hatte zwangsläufig ihren Lebensweg vorgezeichnet.
Denise spürte das und war darüber sowohl erfreut wie enttäuscht. »Was meinst du, wie lange es noch dauert?«, fragte sie leise. Obwohl sie allein waren, wollte keine von beiden Gefahr laufen, gehört zu werden.
»Noch eine Woche, und ich steh wieder auf meinen Stelzen. Und dann will ich hier weg.« Die Sehnsucht war Cathys Stimme anzumerken, ihr Bedürfnis, dem Heim zu entkommen, so stark, dass es beinahe greifbar war.
»Dich holen sie ja auch nicht wieder zurück, weil du gar nicht
hier sein solltest. Aber bei mir ist das anders«, flüsterte Denise. »Ich muss draußen sofort anschaffen gehen. South London kommt überhaupt nicht infrage. Ich dachte an oben im Westen oder sogar an den Norden. Die Zwillinge, Maureen und Doreen, glauben, ich könnte an der Lumb Lane in Bradford gut was verdienen. Angeblich ist da schwer was zu holen, und die Frauen, die da arbeiten, stehen zu ihrem Job und haben gute Zuhälter und alles.«
Ihrer Stimme waren Zuversicht und Freude über die rosige Zukunft anzuhören, die von den Zwillingen ausgemalt worden war. Die Aussicht, viel Geld zu verdienen und wieder mit echten Prostituierten zusammenzukommen, schien einen Traum wahr werden zu lassen. Denise wusste, dass sie mehr als das vom Leben nicht zu erwarten hatte. Schon als Kind hatte sie hinzunehmen gelernt, dass ihr Leben ein harter Kampf sein würde. Und das hatte sich bis jetzt bewahrheitet.
»Dir ist doch klar, was wir tun müssen, um hier rauszukommen, oder?«, verlangte sie von Cathy zu wissen.
Cathy nickte. Ihr Gesicht verdüsterte sich für einen Moment, aber dann lächelte sie grimmig. »Ich mach es und du auch. Ich würde alles tun, um von hier wegzukommen.«
Beide verstummten, als hätte ihnen die Ungeheuerlichkeit dessen, was vor ihnen lag, die Sprache geraubt.
Was mehr oder weniger auch der Wahrheit entsprach.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war Mary Barton aufgeschmissen.
Eine aufdringliche Frau namens Betty Jones hatte alle möglichen Fragen über die kleine Connor gestellt. Irgendwie hatte sie von dem ursprünglichen Plan erfahren, sie bei Pflegeeltern unterzubringen, und ständig nachgefragt, warum keine Briefe gekommen waren und man auch keine Nachricht von dem Kind hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte Mary richtige Angst.
Bis zum Auftauchen von Cathy Connor war sie so gut wie immer nach Gutdünken verfahren, sowohl bei den Leuten, mit denen sie zu verhandeln hatte, als auch bei den Kindern, die sie in Heime, zu Pflegefamilien oder in Institutionen schickte, ganz wie es ihr passte. Jetzt wollte doch tatsächlich jemand wissen, was mit den Kindern geschehen war, die man ihr anvertraut hatte, und sie musste sich rechtfertigen. Eine ernüchternde Übung.
Wie die meisten tyrannischen Menschen war Mary Barton im Grunde eine feige Person. Sie war glücklich, wenn sie die uneingeschränkte Kontrolle besaß, aber verloren, sobald jemand ihre Macht infrage stellte.
Catherine Connor hätte niemals in die Benton School for Girls überstellt werden dürfen, und das wussten sie alle. Das kleine Biest hatte höchstpersönlich die Unverfrorenheit besessen, sie wegen der Situation zur Rede zu stellen. Einfach unerhört! Niemand kritisierte eine Entscheidung von Mary Barton. Das war sozusagen das elfte Gebot, ein ungeschriebenes Gesetz. Aber inzwischen maßte sich in ihrem Arbeitsbereich jeder an, von ihr getroffene Entscheidungen zu hinterfragen, und das empfand sie als höchst unangenehm.
Wie sollte sie erklären, warum sie das Kind hier eingeliefert hatte, statt es einer privaten Pflegefamilie anzuvertrauen? Sie hatte einen Bericht eingereicht, in dem es hieß, das Mädchen habe sie und auch Miss Henley angegriffen. Normalerweise reichte das. Jetzt plötzlich wollte die Behörde sich das Kind vorführen lassen.
Diese Betty Jones verursachte ebenfalls unsagbare Schwierigkeiten, indem sie anbot, das Mädchen bei sich aufzunehmen. Als würde Mrs. Barton ein Kind der Gefährdung in einem Haus von schlechtem Ruf aussetzen und dazu bei einer Frau, die ihren Körper an fremde Männer verkaufte! Miss Benton vergaß dabei wohlweislich, was sogenannte achtbare Mitglieder des Establishments innerhalb der Benton School for Girls den Schutzbefohlenen antaten.
Alles in allem war die Situation prekär.
Wie sie feststellte, wurde
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