Die Augen der Medusa
fand sich Vannoni vor einer Polizeisperre wieder. Er hatte nicht bemerkt, dass er schon mitten im Ort angelangt war. Langsam wandte er sich um und folgte dem Weg außerhalb der Mauern. Er ging an seinem Haus vorbei Richtung Kirche. Die abschüssige Kurve zum Pfarrhaus hinab querten dünne Rinnsale von Schmelzwasser. Die Polizisten mussten hier Salz gestreut haben. Wahrscheinlich bildeten sie sich ein, alles im Griff zu haben, doch manchmal kam man schneller ins Schleudern, als man dachte.
Vannoni ließ das Pfarrhaus links liegen. Die Entscheidungsträger konnte er nur beeinflussen, wenn er sich der Medien bediente. An denen kamen auch Politik und Polizei nicht vorbei. Vannoni steuerte auf das Haus des Americano zu, in dem sich die Rai eingerichtet hatte. Ein paar Meter vor dem Eingang blieb er stehen. Eine Kampagne musste strategisch gut überlegt sein, das hatte er damals leidvoll gelernt. Die gute Absicht allein zählte nicht. Wenn man zuschlug, sollte es auch ein Volltreffer werden.
Auf keinen Fall durfte Vannoni dem ganzen Haufen von Pressefritzen gleichermaßen in den Ohren liegen. Je exklusiver eine Information war, desto wertvoller schien sie und desto größer würde sie herausgebracht werden. Doch wen sollte Vannoni auswählen? Ein prominenter Sender musste es sein, um für genügend Resonanz zu sorgen. Canale 5 stand überraschenden Enthüllungen wohl am wenigsten kritisch gegenüber. Das war ein Vorteil. Andererseits verfügte der Sender schon über die Sensationsbilder vom Ort der Geiselnahme. Die Rai war damit ins Hintertreffen geraten und brauchte dringend einen Knüller, um die Quoten wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Gut, die staatliche Anstalt bekam den Zuschlag.
Natürlich wäre es am wirkungsvollsten, wenn die Fernsehjournalisten selbst die gewünschten Informationen herausfänden, aber Vannoni wusste nicht, wie er das drehen sollte. Vielleicht genügte es ja, ein paar Fragen offenzulassen, so dass die Damen und Herren sich investigativ gefordert fühlten. Jedenfalls musste Vannoni unbedingt den Eindruck vermeiden, dass er irgendetwas lancieren wollte. Dagegen würden sie sich garantiert sperren. Er musste seine Informationen eben so bringen, dass die Rai aus freien Stücken eine Topnachricht daraus machte.
Dann los! Noch einmal tief durchatmen. Sich ganz auf die Aufgabe konzentrieren. Und auf das, was Vannoni nun einzig und allein war. Ein besorgter und überforderter Großvater. Er drückte die Tür zum Rai-Palast auf, bliebunsicher auf der Schwelle stehen. Im Haus des Americano gab es keinen Flur. Man trat direkt in den Salotto, der nach der Schließung von Ivans Bar anscheinend als neuer Aufenthaltsraum diente. Der Fernseher lief. Vor dem Kamin streckten ein paar Journalisten ihre Füße dem Feuer entgegen, und am Tisch saßen zwei Männer und eine Frau, die Espressotassen vor sich stehen hatten.
»Tür zu!«, sagte einer der Männer. Er war um die fünfzig, hatte buschige Augenbrauen und eine auffallende Hakennase. Vannoni kannte seinen Namen nicht, doch er hatte das Gesicht schon im Fernsehen gesehen. Er schloss die Tür hinter sich, trat aber nicht näher.
»Ja?«, fragte der mit der Hakennase.
»Ich bin der Großvater des Jungen.«
»Das ist bekannt, ja.«
Vannoni zögerte. Er hob die Schultern und sagte dann: »Ich hätte eine Frage an Sie, weil Sie doch vom Fach sind und ich wirklich nicht weiß, was ich von dieser Sache halten soll.«
Der mit der Hakennase nippte an seinem Kaffee.
Vannoni sagte: »Es ist nämlich so, dass … Also, die vom Krisenstab reden immer von ermittlungstaktischen Gründen, aber ich verstehe nicht, was es bringen soll, die Wahrheit so zu verdrehen.«
Die drei am Tisch sahen sich an. Die Frau sagte: »Kommen Sie, Herr Vannoni, setzen Sie sich zu uns! Wie wäre es mit einem Espresso?«
Vannoni winkte ab. Er blieb an der Tür stehen.
»Worum geht es denn eigentlich?«, fragte der mit der Hakennase.
Eben das dürfe er nicht sagen, stammelte Vannoni. Der Krisenstab habe die Bewohner von Montesecco zur Geheimhaltung verpflichtet. Er wolle nur ganz allgemein wissen, inwieweit es von Vorteil für polizeiliche Ermittlungen sein könne, wenn man die Öffentlichkeit in völlig falschem Glauben über ein Verbrechen lasse.
»So abstrakt lässt sich Ihre Frage nicht beantworten«, sagte der Dritte am Tisch. »Ein wenig mehr müssen Sie uns schon mitteilen.«
Vannoni druckste herum. Es handle sich um seine Familie. Gerade deswegen wolle er ja nichts falsch
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