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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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Geiselnehmer hingestellt. Vannoni sollte andere Sorgen haben. Er schaltete den Fernseher aus und warf den Mantel über.
    »Nur mal die Beine vertreten«, erklärte er Antonietta, die gar nichts gefragt hatte. Selbst der besorgte Ausdruck in ihrem Gesicht regte ihn auf. Er konnte jetzt nicht reden, er konnte nicht mehr herumsitzen, musste seiner hilflosen Wut Auslauf gewähren und den Kopf klar bekommen. Draußen, wo seine Gedanken nicht an Mauern stießen.
    Eine Viertelstunde später stapfte er über die Felder. Die kalte Luft war angenehm, doch ruhiger wurde Vannoni nicht. Er ging nach links und bog in die Landstraße ein, die zum Dorf zurückführte. Er hielt sich am Rand der Fahrbahn, wo der Schnee noch nicht völlig zu Matsch verwandelt worden war, sondern nur braune Spritzer von den vorbeifahrenden Polizeilastwagen abbekommen hatte. Vannoni dachte, dass es sinnlos sein würde, selbst bei der Einsatzleitung vorstellig zu werden. So absurd es klang, der Questore schien überzeugt zu sein, dass Catia vorgehabt hatte, zu den Roten Brigaden überzulaufen. Er vermutete eine weit verzweigte terroristische Verschwörung. Hier in Montesecco!
    Vannoni konnte nicht darüber lachen. Ihm war tatsächlich eher danach, eine Bombe zu basteln und dem Haufen von Idioten dort im Pfarrhaus Feuer unterm Hintern zu machen. Natürlich würde er das nicht tun. Mit achtundfünfzig Jahren und nach allem, was er erlebt hatte, füllte man keine Mollis ab. Heutzutage machte das gar keiner mehr. Die zornigen jungen Männer von früher waren alt geworden, und neue wuchsen nicht mehr heran. Solche, die wussten, was falsch war. Die es klar benannten. Die sich darüber empörten und, wenn sonst nichts half, auch persönlich etwas riskierten, um es zu ändern. Jetzt gab es nur noch Verrückte, die mit Granatwerfern auf Oberstaatsanwälte schossen und wahrscheinlich nicht einmal selbst begriffen, warum.
    Aus dem Schornstein von Lucianos Hof drang weißer Rauch. Vor der Tür kläffte der Hund, kam aber nicht wie sonst bis zur Straße vor. Vannoni keuchte die Steigung hinauf und zwang sich, langsamer zu gehen. Sicher hatten sie damals bei Lotta Continua Fehler begangen, jede Menge sogar, aber nur wer nichts tat, machte auch nichts falsch. Doch selbst das stimmte ja nicht. Praktisch jedes Übel und jedes Elend in der Welt wurden nur möglich, weil die große Mehrheit desinteressiert wegsah. Und weil die wenigen, die es anrührte, sich einredeten, sowieso nichts ausrichten zu können.
    Vannoni erreichte die Abzweigung nach Montesecco. Aus Richtung San Lorenzo kommend, bog gerade ein voll besetzter blauer Lancia ein. Auf dem Beifahrersitz glaubte Vannoni den Reporter von La Stampa zu erkennen, der ihn nach seinen Verbindungen zu den Roten Brigaden ausgefragt hatte. Vannoni hätte sich jetzt noch wegen seiner gestammelten Ausflüchte ohrfeigen können. Was sein früheres politisches Engagement anging, hatte er sich nichts vorzuwerfen. Zumindest nicht im Vergleich zu anderen, die immer nur brav stillgehalten hatten. Wie er selbst dann später auch.
    Was war nur über die Jahrzehnte mit ihm geschehen? Wo waren die Wut, die Empörung geblieben, wo der Wille, sich einzumischen, die Überzeugung, etwas ändern zu können? Wie konnte es dazu kommen, dass er einem Questore, der seine fast erschossene Tochter Terroristen zurechnete, nicht sofort an die Gurgel ging? Wie konnte er überhaupt daran denken, bei der Polizei anzukriechen und darum zu betteln, seinen Enkel nicht als kriminelles Monster anzusehen?
    Am Hang ragten schwarz die Zypressen auf. Der Schnee hatte sich nicht in ihnen festsetzen können, aber er bedeckte die Steinbank an der Spitzkehre der Straße. Dort zweigte der Weg zum oberen Teil Monteseccos ab. Die Hauptzufahrt zur Piazza war mit den Autos der Medienleute zugeparkt. Sie würden erst verschwinden, wenn alle Bilder im Kasten waren. Die von erschossenen Geiseln, stürmenden Sondereinheiten, Blendgranaten und Querschlägern. Von knatternden Polizeihubschraubern und im Stau steckenden Leichenwagen. Bilder von Typen wie dem Questore, die sich, wenn Minhs Unschuld erwiesen wäre, nicht entblöden würden, ihm scheinheilig ihr tief empfundenes Bedauern auszusprechen. Doch darauf wollte Vannoni nicht warten! Wut half genauso wenig wie Resignation. Er musste endlich aktiv werden. Für Catia konnte er nichts tun, doch für Minh. Und wenn es nötig war, dafür zu lügen, zu betrügen und zu intrigieren, dann würde er das bedenkenlos tun.
    Plötzlich

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