Die Augen der Medusa
entschieden an, und damit begann eine Auseinandersetzung, die über zweieinhalb Jahre mit Beweisen und Gegenbeweisen, medizinischen Gutachten und Ermittlungsergebnissen von Privatdetektiven durch die Presse ging. Keine Hypothese und keine Verschwörungstheorie waren zu abwegig, um nicht ausführlich diskutiert zu werden. Ganz Italien spaltete sich in Canelliani und Bruneriani, und das änderte sich auch nicht, als ein Gericht den Fremden offiziell zu Mario Bruneri erklärte. Vor allem Signora Canella blieb felsenfest vom Gegenteil überzeugt. Sie lebte mit dem Mann, den sie weiterhin Giulio nannte, bis zu seinem Tod im Jahr 1941 zusammen. Vielleicht war sie im Unrecht, doch wer wolltebestreiten, dass sie ihre Wahrheit letztlich durchgesetzt hatte?
Vannoni sagte: »Minh kann nichts richtigstellen, weil er als Geisel festgehalten wird. Genau wie die vier Polizisten.«
Möglicherweise stimmte das sogar. Vielleicht hatte der Questore in einem Punkt recht: Wo sollte Minh sich denn sonst aufhalten als in seinem Büro? Und wenn nicht als Geiselnehmer, dann eben als Geisel. Ein Drittes gab es nicht.
»Dann geht die Rechnung mit den fünf Pizze nicht mehr auf«, sagte der Journalist mit der Hakennase. »Ihr Enkel plus vier Polizisten plus ein Geiselnehmer macht sechs.«
Alles ist erklärbar, dachte Vannoni. Für alles kann man Gründe finden. Hatte einer der Gefangenen nichts zu essen bekommen, weil er den Täter aus irgendwelchen Gründen gegen sich aufgebracht hatte? Oder war schon einer umgebracht worden? Minh etwa? Nein, Vannoni wollte das gar nicht in Erwägung ziehen, geschweige denn aussprechen.
Denk nach!, dachte er. Lass dir verdammt nochmal etwas anderes einfallen! Er sagte: »Der Geiselnehmer hat mit Absicht eine Pizza zu wenig verlangt. Er wollte dem Krisenstab weismachen, dass außer den Polizisten nur noch eine Person anwesend wäre, nämlich Minh, der also der Täter sein musste.«
»Dann hätten wir ja eine simple Antwort auf Ihre Frage«, sagte der Journalist.
»Welche Frage?«
»Wegen der Sie uns aufgesucht haben. Der Krisenstab hält die Wahrheit geheim, weil der Täter nicht wissen soll, dass sein Täuschungsmanöver durchschaut wurde. Das wiegt ihn in Sicherheit und könnte ihn zu Fehlern verleiten.«
»Ja«, sagte Vannoni, »natürlich. Das macht Sinn. Danke!«
»Herr Vannoni«, sagte der Journalist, »Sie sind ein gefährlicher Mensch!«
»Ich?«
»Es ist ja verständlich, dass Sie Ihren Enkel nicht gern als Terroristen sehen, aber Sie sollten nicht versuchen, uns für Ihre Zwecke einzuspannen.«
Als der Journalist zur Tür ging, blieb Vannoni sitzen. Sein Plan war gescheitert. Er hatte sein Bestes gegeben, doch das hatte nicht gereicht. Vielleicht war er nicht clever genug vorgegangen, vielleicht hatte er sich nicht glaubhaft genug dumm gestellt. Auf jeden Fall war es nicht genug gewesen.
Der Gartenschlauch hing sauber aufgerollt an der Holzwand des Schuppens. Dass er einmal grün gewesen war, wusste Costanza Marcantoni genau, auch wenn seine Farbe jetzt nicht mehr eindeutig zu bestimmen war. Das Plastik fühlte sich brüchig an, so, als sei der Schlauch lange nicht benützt worden. Dabei hatte Costanza noch vergangenen Sommer ihre Zucchini-und Kürbisbeete jenseits der Straße damit bewässert. Oder war das doch schon ein paar Jahre her? Jedenfalls hatte Paolo oder Benito oder irgendwer den Schlauch unter die Dachschräge gehängt, und dort oben hing er nun.
Bis auf halbe Höhe der Schlingen kam Costanza heran, aber selbst wenn ihre Bandscheiben nicht so schmerzen würden und sie sich in ihren Gummistiefeln auf die Zehenspitzen stellen könnte, würde sie es nicht schaffen, den Schlauch über den Haken zu hieven und ihn dann noch an Ort und Stelle zu bringen. Immerhin maß er fünfzig Meter und wog wahrscheinlich fast so viel wie Costanza selbst. Dass man im Alter oft so hilflos war! Und noch dazu bei Tätigkeiten, die man früher mit links erledigt hatte.
Costanza grummelte und trippelte aus dem Schuppen zum Gartentor. Sie öffnete es nicht, lehnte nur den Oberkörper darüber und blickte unter dem Kopftuch hervor nach beiden Seiten. Von der Kirche her quälte sich ein Lastwagen die Steigung hoch. Kurz darauf fuhr ein Wagender Vigili in die Gegenrichtung. Seine Scheibenwischer quietschten. Es hatte wieder zu schneien begonnen, wenn auch nur sehr sanft. Die ersten Fußgänger, die vorbeikamen, waren drei der Kriegsberichterstatter, die sich in Montesecco breitgemacht hatten. Der mit
Weitere Kostenlose Bücher