Die Augen der Medusa
Trosses die Treppe herabschritt, ahnte man das. Zu unterschiedlich waren die Welten, die hier aufeinandertrafen, zu groß die Diskrepanz zwischen den Anzugträgern und dem Grüppchen dick vermummter Demonstranten, die sich mit Campingstühlen und Decken rund um die am Laternenpfahl angekettete Frau eingerichtet hatten. Eine der Steinbänke, die in der Umfassungsmauer eingelassen waren, diente als Tisch und Vorratslager. Vom Gran Caffè Strega an der Westseite der Piazza brachte ein Kellner gerade ein Tablett mit dampfenden Teegläsern an.
Innenminister De Sanctis blieb auf der untersten Treppenstufe stehen und wandte sich an das kleine Heerlager vor ihm. Seine verständnisvollen und staatsmännisch abgewogenen Worte riefen bei den Angehörigen nur ein Murren hervor, das bald lauter wurde und in einen erregten Wortwechsel mündete. Als eine der Polizistenfrauendem Minister etwas zu nahe auf den Leib rückte, griffen zwei übereifrige Sicherheitsbeamte zu. Die Frau kreischte auf, dass es in halb Rom zu hören sein musste, ihre Mitstreiter drängten nach vorn, Trillerpfeifen tönten, die Wachen vom Eingang des Viminale stürmten mit Maschinenpistolen im Anschlag herbei, unbeteiligte Schaulustige flüchteten sich Hals über Kopf, das Fernsehbild wackelte, und als es nach einem Schnitt wieder da war, zeigte es in Großaufnahme ein kleines Mädchen, das während des Handgemenges anscheinend gestürzt war und sich leicht verletzt hatte.
Von De Sanctis war nichts mehr zu sehen, doch die Frau, die das Mädchen in den Armen hielt, sagte mit bebender Stimme, dass das Blut ihres unschuldigen Mannes über den Minister kommen solle. Der Rest der Protestierenden war versprengt oder vielleicht auch festgenommen worden, mit Ausnahme der Frau, die sich an den Laternenpfahl gekettet hatte. Sie trat wild um sich, während ein paar Polizisten versuchten, die Handschellen aufzuschließen, ohne die Frau im Beisein der Presse allzu hart anzufassen. Während die Bilder noch liefen, teilte die Fernsehsprecherin mit, dass die Angehörigen inzwischen erklärt hätten, unbefristet in den Hungerstreik zu treten, um die Politik zu zwingen, sich ernsthaft für die Rettung der Geiseln von Montesecco einzusetzen.
Wer noch vor dem Fernseher saß, atmete auf, als endlich die Wettervorhersage kam. Nun konnte man hoffen, dass Montesecco nicht noch einmal genannt wurde. Das Tiefdruckgebiet über Skandinavien hatte sich weiter nach Süden verlagert. Es bestimmte das Wetter ganz Mitteleuropas und bis über die Alpen hinaus. In Italien sollte es nur im äußersten Süden und auf den Inseln schrittweise aufklaren, für den Rest wurden Wolken und ergiebige Niederschläge angekündigt, die im Alpenvorland und längs des Appenninhauptkamms als Schnee fallen würden. Über allen Meeren waren starke Winde zu erwarten, auf der adriatischenund ionischen Seite vor allem als eisige Tramontana. Bei den Tageshöchsttemperaturen würden Messina und Palermo mit bis zu zehn Grad die angenehme Ausnahme bilden, während der gesamte Norden Italiens gerade mal die Null-Grad-Grenze erreichen werde. Auch die Tiefsttemperaturen könnten noch einmal absinken. Für die nächsten Tage seien keine wesentlichen Änderungen zu erwarten.
Es blieb also ungemütlich. Keiner der Dorfbewohner wollte es aussprechen, aber nach allem, was vorher berichtet worden war, schien es fast so, als ob sich sogar das Wetter von den Geschehnissen in Montesecco hatte anstecken lassen.
Der Kameramann schloss das Fenster und sagte: »Erzählen Sie ruhig!«
Eigentlich waren Donato und er inzwischen per du, doch der Kameramann schien das immer wieder zu vergessen. Er hieß Miguel.
»Spanier?«, hatte Donato gefragt.
Der Kameramann hatte den Kopf geschüttelt. »Meine Eltern haben mich in Spanien gezeugt. In einem kleinen Nest zwischen Barcelona und Gijón.«
»Und deshalb haben sie …?«
»Ist doch kein schlechter Name, oder?«
»Nein«, hatte Donato gesagt. Er wusste nicht, wo seine Eltern ihn gezeugt hatten. Im eigenen Schlafzimmer, vermutlich. Danach zu fragen hätte er nie gewagt. Obwohl er selbst ja nur deswegen existierte, war ihm der Gedanke, dass seine Eltern stöhnend aufeinandergelegen hatten, unangenehm. Ob seine Probleme mit Marisa auf seine Verklemmtheit zurückzuführen waren?
Seine Frau war wieder nicht nach Hause gekommen. Wahrscheinlich steckte sie immer noch in Catias Wohnung. Oder sonstwo. Er wollte es gar nicht wissen. Er wollte bloß, dass sie zu ihm zurückkam. Das war
Weitere Kostenlose Bücher