Die Augen der Medusa
alles. Und wenner darüber nur mit einem Kameramann von Canale 5 reden konnte, dann war das besser als gar nichts.
»Die Leute hier«, sagte Donato, »ich will gar nicht behaupten, dass das alles nur Dumpfbacken sind. Es gibt Schlaue und weniger Schlaue, wie überall, doch eins kann ich dir versichern: Die sind so etwas von misstrauisch gegenüber allem Neuen, dass man sich fragt, wieso sie nicht mehr mit Steinwerkzeugen irgendwelche Felle ausschaben. Mit den Äckern ums Dorf herum endet die bekannte Welt, da drüben hinter dem Hügel beginnt für sie Afrika, und Mailand oder Rom, das ist eine andere Galaxie, das gehört nicht einmal mehr zu unserem Sonnensystem.«
Der Kameramann nickte, als ob er genau wüsste, wovon Donato sprach. Vielleicht hatte er mal in einem ähnlichen Dorf gelebt. Noch dazu mit einem fremdländischen Vornamen. Miguel. Wenigstens klang das nicht so altbacken wie Donato. Mit einem Namen wie seinem eigenen strafte man heutzutage kein Kind mehr. Donato blickte Miguel an. Der stand auf. Er knipste Marisas Nachttischlampe an und richtete sie auf Donato.
»Was machst du da?«, fragte Donato.
Miguel drehte die Fernsehkamera vom Fenster weg und schaltete sie ein. Er sagte: »Sprechen Sie ruhig weiter!«
»Vor der Kamera?«
»Ja.«
»Und wenn draußen auf der Piazza etwas passiert?«
»Dann werde ich eben gefeuert.« Die Aussicht, seinen Job zu verlieren, schien Miguel nicht sehr zu beunruhigen. Vielleicht wartete er insgeheim schon lange darauf, weil er nicht den Mut fand, selbst zu kündigen.
Donato nickte ebenfalls. Er zog sich das Kopfkissen hinter dem Rücken zurecht und sagte: »Ich wohne seit fast zehn Jahren in Montesecco. Glauben Sie, mich hätte schon mal einer zu sich nach Hause eingeladen? Ich meine, ohne Marisa, nur mich allein? Kein einziges Mal, keiner vonihnen! Nicht, dass ich großen Wert darauf gelegt hätte, es zeigt nur, was du hier zählst, wenn du von auswärts kommst. Nichts nämlich, gar nichts. Ich wäre schon längst über alle Berge, wenn Marisa nicht wäre. Nur wegen ihr bin ich geblieben, weil sie hier so verwurzelt ist. Das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, die Erinnerungen, das Grab ihrer Eltern unten im Friedhof, für sie ist das alles wichtig. Ich könnte sonstwo leben, nichts lieber als das. Wenn Marisa nicht wäre …«
Die Kamera lief. Donato fragte sich, wieso er das alles erzählte.
»Wenn Marisa nicht wäre …?«, wiederholte Miguel.
»Ich habe damals bei der Stadtverwaltung von Pergola gearbeitet. Baugenehmigungen und so etwas. Am 18. Juni ist sie zu mir ins Büro gestürmt. An den Tag erinnere ich mich noch genau. Draußen tobte ein Sommergewitter, der Regen trommelte gegen die Scheiben, und ihre Kleidung war klatschnass. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und beschimpfte mich als Bürokraten, der sich bloß von der Druckerschwärze seiner Paragraphen ernähre. Ich hatte ihrem Vater nämlich eine beantragte Nutzungsänderung abgelehnt. Streng nach Vorschrift natürlich. Später konnten wir das doch irgendwie regeln, aber in dem Moment dankte ich Gott, dass ich bei dem Vorgang kein Auge zugedrückt hatte. Sonst hätte ich sie vielleicht nie getroffen. Marisa war nicht überwältigend hübsch, keine Miss Italia, aber wie sie die Hände auf meinen Schreibtisch stützte, die nassen Haare schüttelte wie ein junger Hund und mir die Hölle heißmachte, da war es um mich geschehen. Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick, Miguel?«
Miguel filmte. Für einen Augenblick kam es Donato so vor, als ob nicht ein Mensch ein technisches Gerät bediente, sondern umgekehrt. Als ob die Kamera, sobald sie eingeschaltet war, von Miguel Besitz ergriffe und ihn zwänge, das zu tun, was sie wollte. Wieso sollte es ihm auch anders gehen? Niemand war frei und selbstbestimmt.Oder wenn, dann nur in ganz seltenen Momenten. Diese nicht zu verpassen, darauf kam es an. Sie nicht einfach im Alltagstrott verstreichen zu lassen, sondern entschlossen zu ergreifen, wann immer sich die Gelegenheit bot.
Donato beugte sich nach vorn. Er räusperte sich. Er spürte, dass seine Stimme trotzdem belegt klingen würde, aber das machte nichts. Es war der richtige Moment, und deswegen hatte er nichts zu befürchten. Nichts klänge falsch, nichts wäre peinlich. Donato fühlte, wie eine zentnerschwere Last von seinen Schultern fiel. Er sagte: »Falls du gerade vor dem Fernseher sitzen solltest, wenn das hier läuft, Marisa, dann hör mich an! Schalte nicht aus, ich bitte dich!
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