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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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und einige dazwischen liegende Häuser trennten, mochte das schon anders klingen.
    Dennoch, was Mamadou wusste, das wusste er. Ein Schuss hörte sich keinesfalls wie ein brechender Ast an. Da war kein Schuss gefallen. Wer sollte denn auch mitten in der Nacht in einem geschlossenen Raum schießen? Und aus welchem Grund? Irgendetwas anderes hatte dieses Geräusch verursacht. Irgendetwas, das Mamadou nicht einordnen konnte, das aber sicher nicht wichtig gewesen war. Es lohnte gar nicht, darüber nachzudenken.
    Ihn fröstelte. Er hatte genug gelüftet. Er würde jetzt die Läden schließen, sich vergewissern, dass die Kinder schliefen, und sich unten zu Milena aufs Sofa setzen, um auf die Nachrichten zu warten. Als er sich zum Fenster hinausbeugte, sah er einen der Polizisten vom vorderen Kontrollpostenunter sich vorbeihasten. Er lief die Gasse hoch, als wäre der Teufel hinter ihm her. Mamadou schloss das Fenster, schüttelte den Kopf und dachte, dass er doch nur das Knacken eines dürren Astes gehört hatte. Dann stapfte er zu Milena hinab und sagte: »Bei Minh im Büro wurde geschossen!«
    Ivan Garzone würde später behaupten, dass er den Schuss sehr wohl gehört hätte. Auch die Bedeutung der Angelegenheit wäre ihm sofort klar gewesen, er sei nur nicht zu Wort gekommen. In Wahrheit befand er sich zum fraglichen Zeitpunkt am anderen Ende des Dorfs in seiner verschlossenen Bar, wo er selbst Geschützdonner nicht vernommen hätte, weil der alte Marcantoni lautstark über die Qualitäten von Ivans Vorvorgänger referierte.
    Bis Ende der 1970er Jahre habe Pellegrini die Bar vorbildlich geführt, und wenn er, Franco Marcantoni, vorbildlich sage, dann meine er zum Beispiel, dass Pellegrini nie auf die Idee gekommen wäre, die Tür zu verrammeln und die Bar einfach geschlossen zu halten. Da hätte rundherum die Welt untergehen können! Überhaupt sei Pellegrini ein Barmann von echtem Schrot und Korn gewesen, immer korrekt in schwarzer Hose und weißem Hemd gekleidet, wenn er hinter der Theke stand. Nicht so wie Ivan, der …
    »Soweit ich weiß, besaß er überhaupt nur zwei Hemden«, warf Ivan ein, »und zwischen denen wechselte er ausschließlich samstags, egal, ob ihm ein besoffener Gast schon am Montag Rotwein darübergekippt hatte.«
    Franco Marcantoni ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Anschreiben konnte man bei ihm auch! Da hinten lag das schwarze Buch, in dem jeder aus dem Dorf seine Zeche notieren ließ. ›He, Franco, deine Seite ist voll!‹, hat er mal zu mir gesagt, und ich: ›Na, dann blättere um und fang eine neue an!‹ Und wenn das ganze Buch voll war, sagten wir genauso: ›Dann fang eben ein neues an,Pellegrini!‹ Ich versichere dir, der hat oft monatelang keine Lira von uns gesehen.«
    »Und was war mit dem Wein?«, fragte Ivan, um den Anschein zu erwecken, sich zu verteidigen. Er kannte die Antwort auf seine Frage so gut wie das ganze überkommene Ritual, das Franco eingeleitet hatte. Es wurde durchgespielt, wenn man sich sonst nichts zu sagen hatte. Aber all diese Geschichten wurden weder wahr noch irgendwie bedeutsam, nur weil man sie hundert Mal wiederholte.
    »Gut, beim Weißwein musste man aufpassen«, gab Franco zu. »Pellegrini hat schon mal aus einer Damigiana drei gemacht und den halbleeren Kanister unter dem Hahn wieder aufgefüllt. Wasser zu Wein! Als wir ihn mal dabei erwischten, hat er sich aufs Evangelium berufen. Was dem Herrn Jesus Christus recht gewesen sei, sei ihm als gläubigem Menschen nur billig.«
    »Billig war das zweifelsohne«, sagte Ivan. »In jeder Hinsicht.«
    »Und außerdem hatte es den Vorteil, dass man trinken konnte, soviel man wollte. Man bekam keine Kopfschmerzen. Ich jedenfalls habe mich so daran gewöhnt, dass ich bis zum heutigen Tag am liebsten Gespritzten trinke.«
    Halb Weißwein, halb Sprite. Ivan wusste Bescheid. Er wusste auch, dass ihn Franco gleich um ein Gläschen anbetteln würde, und dann würde er den Alten die halbe Nacht nicht mehr loswerden.
    »Schluss für heute!«, sagte Ivan und schob den protestierenden Franco freundlich, aber bestimmt dem Ausgang zu. Als er den Schlüssel herumdrehte und die Tür öffnete, huschten draußen vier in schwarze Kampfmonturen gekleidete Männer vorbei. So schnell verschwanden sie in der Dunkelheit, dass Ivan und Franco sich fragten, ob ihnen ihre Augen nicht einen Streich gespielt hatten. Dann begann der Trubel erst richtig. Die Tür des Pfarrhauses fiel gar nicht mehr ins Schloss, weil ständig jemand

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