Die Augen der Medusa
geknackt und jede Menge belastender Dokumente ausgedruckt zu haben, die so brisant waren, dass sie sich Malavoglia offensichtlich weder per Post noch per E-Mail schicken lassen wollte. Einig waren sich beide Parteien nur darin, dass die eingeleiteten Untersuchungen unter dem Decknamen »Operation Medusa« firmierten. Und dass Malavoglia nicht im Entferntesten befürchtet hatte, von Minh in eine Falle gelockt zu werden.
Letzteres mochte vielleicht in der Staatsanwaltschaft Rom verwundern, für Marisa Curzio bestätigte es nur, was sie sowieso schon wusste. Minh hatte tatsächlich Wichtiges entdeckt und das dem Oberstaatsanwalt anvertrauen wollen. Nicht er hatte Malavoglia eine Falle gestellt, sondern jemand anderer. Oder genauer gesagt, dieser Jemandhatte die Gelegenheit ausgenutzt und seine Killer kurz vor Montesecco auf Malavoglias Limousine warten lassen. Aber dazu musste er von der Operation Medusa gewusst haben. Von Minh? Vielleicht hatte der Junge noch andere Personen über seinen Fund informiert. Hatte er sich dabei gegenüber den falschen Leuten verplappert?
Marisa zwang sich, über diese Möglichkeit nachzudenken, aber selbst zwei Tassen Kamillentee kurz hintereinander konnten nicht verhindern, dass sich ein ganz anderer Verdacht dazwischendrängte und ihren Puls schneller schlagen ließ. Was, wenn die undichte Stelle am anderen Ende lag? In der Staatsanwaltschaft Rom? Vielleicht hatten sich die falschen Leute in unmittelbarer Nähe Malavoglias befunden. So nahe, dass sie über den Anruf Minhs informiert und in die geplante Operation Medusa eingeweiht waren. Hatte einer seiner eigenen Mitarbeiter den Oberstaatsanwalt beseitigen lassen?
Das würde erklären, warum in der Behörde zwei sich widersprechende Versionen über Minhs Entdeckung kursierten. Die eine gründete sich tatsächlich auf Andeutungen Malavoglias, die durchgesickert waren, die andere dagegen war von seinem Feind bewusst lanciert worden, um von den wahren Zusammenhängen abzulenken. Dass ihm das nötig erschien, bewies, wie sehr ihm die Wahrheit gefährlich werden konnte. Nur, welche der Versionen war richtig, und welche falsch?
War es den Roten Brigaden gelungen, in der erweiterten Spitze der Staatsanwaltschaft einen Sympathisanten zu rekrutieren, der befürchtete, durch Minhs Informationen enttarnt zu werden? Dann musste er freilich verhindern, dass Malavoglia je in Montesecco ankam. Er kontaktierte seine Genossen im Untergrund, die sofort ein Kommando losschickten. Das jagte den Wagen des Staatsanwalts in die Luft und drang während des folgenden Chaos’ in Minhs Büro ein, um die dort vermuteten Beweise zu vernichten. Dabei waren die Brigadisten allerdings von Polizisten überraschtworden, die Minh vernehmen wollten. Die nicht eingeplante Geiselnahme führte dann doch dazu, dass der terroristische Hintergrund aufflog, aber das konnte der Maulwurf in der Staatsanwaltschaft zu der Zeit nicht wissen. Er hatte inzwischen schon das Gerücht in die Welt gesetzt, dass Malavoglia irgendeiner Korruptionsaffäre nachspürte.
Oder gab es diese Affäre wirklich, und der verräterische Mitarbeiter Malavoglias war bis zum Hals darin verstrickt? Der Mordauftrag, die Suche nach den belastenden Dokumenten, die Geiselnahme der unvermutet auftauchenden Polizisten könnten sich ähnlich wie in der ersten Variante abgespielt haben. Schwieriger war zu verstehen, wieso ein Mörder, der nicht aus dem terroristischen Umfeld stammte, zwölf gefangene Brigadisten freizupressen versuchte. Warum verlangte er nicht einfach freies Geleit und ein ansehnliches Lösegeld?
Aber vielleicht hatte er das ja getan! Verbunden mit der Drohung, im Falle seiner Festnahme gründlich über alle Aspekte des Korruptionsfalls auszupacken. In den Gerüchten aus Rom hieß es, höchste Kreise seien darin verstrickt. Vielleicht aus der Politik oder der Polizei. Vielleicht auch die Führung des Krisenstabs drüben im Pfarrhaus. Durch deren Hände gingen ja sämtliche Verlautbarungen des Täters. Wenn man diese fälschte und der Öffentlichkeit nur lange genug das Bild eines durchgedrehten Terroristen in die Köpfe hämmerte, würde jeder einen hilflosen Racheakt vermuten, sollte der Mörder nach seiner Festnahme plötzlich diejenigen der Korruption beschuldigen, die ihn geschnappt hatten. Noch dazu, wenn ein Helfershelfer auch in der Staatsanwaltschaft Rom verbreitete, dass Malavoglia von Anfang an die Roten Brigaden im Visier hatte.
Politskandal oder Terrorismus? Die korrupten Eliten
Weitere Kostenlose Bücher