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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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Unerreichbare einflößen, so wie er sein Leben lang jeden kostspieligen Gegenstand betrachtet hatte, den er gern besessen hätte.
    Und plötzlich wurde ihm klar, daß er das Fernglas noch am selben nachmittag kaufen konnte.
    Die fünfundachtzig Dollar waren ja nur ein Tausendstel 99
    des Geldes, das er besitzen würde! Dieser Gedanke machte Winnie schwindelig, und er ging die Avenue entlang und versuchte, wieder zur Besinnung zu kommen, indem er an etwas anderes dachte. Eine Zeitlang saß er im Central Park.
    Die Bäume sahen ziemlich kläglich aus, doch im Grünen ging es ihm besser als inmitten all der Betongebäude.
    Kurz nach vier Uhr überreichte Mr. Hughes Winnie acht Packen Geldscheine, die aus je zehn Tausenddollarnoten bestanden. Die Scheine mit den kleinen Tausenderziffern in der Ecke sahen gar nicht wie echtes Geld aus, aber Winnies Hände zitterten, als er die Päckchen in der Aktentasche verstaute. Mr. Hughes schüttelte ihm herzlich die Hand und wünschte ihm alles Gute in Kanada und in Kalifornien. Winnie dankte ihm von Herzen, für sich wie in Roses Namen.
    Im Zug bemühte er sich, nicht an das Geld zu denken. Er legte die Aktentasche in das Netz über seiner oberen Schlafkoje und schlief so schnell ein wie immer.
    Erst am nächsten Morgen, auf der Fähre über den Dardle nach Bingley, begann Winnie über das Geld in der Aktentasche nachzudenken. Er dachte darüber nach, wie schwer er all die Jahre gearbeitet und wie wenig es ihm eingebracht hatte. Nicht einmal genug, um Rose einen Kühlschrank zu kaufen. Er dachte über all die Fehler nach, die er gemacht hatte, und über das Pech, das ihm so unerbittlich folgte wie ein Spürhund einer sicheren Fährte, seit er den Fuß nach Bingley gesetzt hatte – das Durch-brennen seines Bruders mit dem ganzen Geld und der Schimmel im Keller und die unzähligen Male, wenn er Waren eingekauft hatte, die unverkäuflich waren, wenn er 100
    den Falschen Kredit eingeräumt und wenn er Waren nicht eingekauft hatte, die verkäuflich gewesen wären und mit denen er ein bißchen Geld verdient hätte. Es war fast, dachte er, als hätte er sein Leben lang den Mißerfolg gesucht und als wäre das einzige, was er mit Erfolg getan hatte, ihn zu finden. Und jetzt überreichte man ihm achtzigtausend Dollar auf dem Silbertablett für nichts und wieder nichts. Er hatte es nicht verdient. Dieser glückliche Zufall, der sein ganzes Leben ändern würde, paßte nicht zu seinem Schicksal. Winnie griff nach einem Taschentuch in seiner Hosentasche. Er dachte daran, daß er Bingley verlassen würde, und hatte Tränen in den Augen. Und als er den Arm hob, stieß er mit der Hand gegen die Aktentasche, die auf der Brüstung der Fähre lag.
    Winnie wollte sie festhalten, aber es war schon zu spät.
    Die Aktentasche fiel schier endlos lange und versank mit einem leisen Plumpsen im Wasser. Winnie beugte sich über die Brüstung. Die Aktentasche war spurlos verschwunden.
    »He!« rief Winnie zur Brücke hoch. »Halten Sie das Schiff an! Ich habe gerade achtzigtausend Dollar verloren!«
    »Was haben Sie verloren?« fragte einer der Passagiere an Deck, ein Mann, den Winnie nicht kannte.
    Winnie lief zu der Treppe, die zur Brücke hochführte.
    Dann blieb er stehen, von Kopf bis Fuß zitternd. Wie albern, die Fähre anhalten zu wollen! Wenn er sah, wie der Fluß dahinrauschte – Hochwasser obendrein, strudelnd und voller Schlamm vom Frühlingsregen –, wußte er, daß er die Aktentasche nicht in tausend Jahren wiederfinden würde, selbst wenn er ein Heer von Tauchern nach ihr suchen ließ!
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    »Was haben Sie verloren?« fragte der Mann neben ihm.
    »Ach, nichts«, sagte Winnie.
    Die Fähre näherte sich dem Landeplatz von Bingley.
    Eine Menge Leute schien sich eingefunden zu haben. Winnie hatte gehofft, unbemerkt nach Hause zu gelangen, weil er wußte, daß der erste, der ihn aus New York kommen sah, ihm sofort zum Besitz des Geldes gratulieren würde.
    Als er den Landungssteg betrat, ertönte das Hurrageschrei der Menge.
    »Willkommen zu Hause, Winnie!« »Wie fühlt man sich als Millionär?« »Winnie, wo hast du deinen Rolls-Royce?«
    Die Feuerwehrkapelle neben dem Bootshaus intonierte
    »There'll Be a Hot Time in the Old Town Tonight« so laut, daß sie alles Geschrei und alle Rufe übertönte, und Winnie sah Rose im Sonntagsstaat und mit Blumen, die sie an einer Schulter festgesteckt hatte. Jetzt riefen alle wie aus einer Kehle: »Ansprache! Ansprache!« Winnie ging den Landungssteg

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