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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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hinunter und auf Rose zu. Er kam sich vor wie ein geprügelter Hund, und er vermutete, daß er auch so aussah, doch niemand schien daraus irgendwelche Schlüsse zu ziehen.
    Cal Whiting, der Direktor der Bank von Bingley, hob die Hand, damit Ruhe einkehrte.
    Winnie riß sich zusammen. Warum nicht die Gelegenheit ergreifen und es hinter sich bringen? dachte er sich. In ein paar Stunden würden ohnehin alle Bescheid wissen.
    »Meine Damen und Herren – liebe alte Freunde aus Bingley«, begann er, und lauter Applaus setzte ein. »Zu meiner unendlichen Scham muß ich Ihnen sagen, daß ich 102
    das Geld vorhin über die Brüstung der Fähre fallen gelassen habe. Aus Unachtsamkeit.«
    Stöhnendes »Ooh!« war zu hören.
    Und einzelne ungläubige »Huh?«.
    »Oh, Winnie!« Roses Gesicht hatte sich verzogen. Sie streckte die Hand aus, als stehe sie im Begriff, ohnmächtig zu werden, und Winnie fing sie auf.
    »Was soll das heißen, Winnie?« fragte eine Stimme.
    »Das soll heißen, daß ich das Geld nicht mehr habe. Ich habe es verloren. Es ist in den Fluß gefallen. Ich nehme an, ich bin wieder derselbe alte Versager, den ihr schon alle kennt – und ich nehme an, Rose und ich werden nicht aus Bingley wegziehen.«
    Es dauerte eine ganze Minute, bis die Menge begriffen hatte, was Winnie da gesagt hatte. Winnie hatte sich noch nie so elend gefühlt, so wertlos, so lebensunwürdig. Da standen sie, er und Rose, klammerten sich aneinander, wieder einmal als Verlierer, und das vor den Augen der ganzen Stadt.
    Und plötzlich sagte Cal Whiting laut: »Also, Leute, ich finde, es ist ein echter Grund zum Feiern, daß Winnie nicht aus Bingley wegzieht. Was vorbei ist, ist vorbei, und ich finde, wir sollten zu meinem Haus gehen und das Fest feiern, wie wir es vorhatten!«
    Damit waren alle einverstanden. Winnie wurde wie ein Strohhalm auf die Schultern der Männer neben ihm gehoben und die Main Street entlang und von dort zur Walnut Street und zu Cal Whitings Haus getragen. Winnie verlor Rose aus den Augen, und in all dem Gedränge und Singen konnte er nicht nach ihr rufen. Auf dem großen Rasen des Whiting-103
    Anwesens standen vier oder fünf lange Tische voller Schüsseln mit Punsch, Sandwiches, Kuchen, Plätzchen, Doughnuts und Süßigkeiten. Genug, um die ganze Stadt satt zu bekommen, dachte Winnie. Auch alle Kinder aus dem Waisenhaus waren da und Schwester Josephine, die ihn so anlächelte, daß Winnie annahm, sie habe die schlechte Nachricht noch nicht gehört. Sie kam geradewegs auf ihn zu, sobald die Männer ihn absetzten. »Winnie –«
    »Schwester Josephine, ich habe das Geld verloren. Ich habe es gerade allen erzählt«, sagte Winnie mit dünner Stimme.
    »Das habe ich schon von einem kleinen Jungen erfahren.« Schwester Josephine ergriff seine Hand und drückte etwas hinein. »Ich hoffe, Sie werden die Uhr jetzt behalten, Winnie. Ich habe sie nicht zurückgegeben. Sie hat auf Sie gewartet.«
    Winnie schloß die Hand um die Uhr. »Danke, Schwester Josephine.«
    Und dann traktierten sie Winnie mit Erdbeerpunsch und Hühnersandwiches und schwerer Schokoladentorte, bis er sich in einen Winkel des Rasens zurückziehen mußte, um nicht zu platzen. Rose folgte ihm. Sie sagte kein Wort und stand nur neben ihm. Sie lächelte, wenn auch ein anderes Lächeln als das am Landeplatz, bevor sie erfahren hatte, was mit dem Geld geschehen war.
    »Bist du sehr enttäuscht, Rose?« fragte er sie. »Ich glaube, ich bin überhaupt nicht enttäuscht. Ich glaube, heute ist der glücklichste Tag meines Lebens, Winnie.«
    Winnie sah ihr geduldiges Gesicht an. Ihm war zumute, 104
    als wäre er dem Tod von der Schippe gesprungen. Aber er hatte auch das Gefühl, als hätte er das nicht verdient.
    »Weißt du, Rose, heute morgen auf der Fähre, kurz bevor ich das Geld verloren habe, da war mir, als könnte ich mich sehen – ich meine, als könnte ich sehen, wie ich auf die eine oder andere Weise immer den Mißerfolg gesucht habe
    –, Rose, hör mir einen Augenblick zu.«
    »Komm zu den anderen, Winnie. Reden können wir später noch.« Rose zog ihn an der Hand.
    »Aber ich muß es dir sagen. Ich will sagen…«
    Sie ließ seine Hand los, und er sah ihr zu, wie sie zu einem der Tische ging, graziös und mit glücklicher Miene, fast so wie an ihrem Hochzeitstag. Winnie blieb, wo er war, in seinem Winkel. Er hatte plötzlich ein befremdliches und herrliches Gefühl, als wäre auch er zwanzig oder dreißig Jahre jünger.
    Und er hatte noch eine

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