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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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Waldstück mit mächtigen Eichen und Kiefern, zwischen denen vereinzelt auch Jungkiefern nachwuchsen. Joël hielt an, stieg aus und nahm den Spaten mit. Er wußte, daß Kiefern stattliche Wurzeln hatten, selbst wenn sie noch ganz klein waren. Und wirklich dauerte es fast zehn Minuten, bis er einen Nachkömmling ausge-graben hatte. Er verstaute das Bäumchen auf dem Rücksitz, stieg ein und manövrierte die Kiefer, mit dem Wurzelstock zuerst, so tief wie möglich unter die Decke. Dann umwickelte er Lucy und das Wurzelwerk mit den
    Rupfensäcken und verschnürte den ganzen Packen. Das war eine langwierige Prozedur, denn er mußte das Bindegarn mehrmals unter dem Körper der Toten durchziehen.
    Welch passendes Denkmal, so ein kleines Tannen-bäumchen, dachte er, so was Schönes hat sie gar nicht verdient. Na, mögen die Wurzeln sich lange nähren an ihrem –
    ihrem was? Ihrem reichen Erfahrungsschatz vielleicht.
    Er fuhr weiter bis zu dem frisch aufgeforsteten Hang, der aus dieser Perspektive eher einer Schinkenseite ähnelte, gespickt mit lauter grünen Gewürznelken: den Jungkiefern.
    Er erschrak ein bißchen, als er entdeckte, daß auf einer Lichtung in unmittelbarer Nähe der Pflanzung ein Pick-nickplatz mit Tisch, Bänken und Abfallkorb entstanden war. Doch es war erst kurz nach zehn, und zum Picknicken kamen die Leute sicher nicht vor zwölf. Das schwerste Stück Arbeit für ihn begann jetzt, als er Lucys fünfzig Kilo mitsamt dem Bäumchen den Hang hinaufschleppen mußte.
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    Joël hatte sich vorgestellt, er würde so parken, daß man das Auto von der Grabungsstelle aus nicht sehen konnte. Aber eingedenk der Schlepperei vom Schlafzimmer in die Garage beschloß er, auf diese Vorsichtsmaßnahme zu verzichten, parkte direkt am Straßenrand, hievte den verschnürten Ballen aus dem Wagen und wankte mit seiner Last bergan. Unter Einsatz aller Kräfte kämpfte er sich den Hang hinauf. Erst als er sich völlig verausgabt hatte, ließ er seine Last zu Boden fallen, trottete zurück zum Auto und fuhr auf der unbefestigten Straße weiter, bis er nach etwa sechzig Metern rechter Hand auf eine Abzweigung stieß, einen steilen Waldweg, dem er ein Stück weit folgte. Dann stieg er aus und kehrte, den Spaten geschultert, zu seinem Bäumchen zurück.
    Es war ein klarer Tag, die Sonne schien heiß, und bald geriet er ins Schwitzen. Erst hackte er die freiliegenden, dünnen, aber zähen Wurzeln der umstehenden Bäume ab, dann fing er an zu graben. Als das Loch einen guten halben Meter tief war, längst noch nicht tief genug, mußte er eine Verschnaufpause einlegen.
    Und prompt tauchten drei Leute mit Picknickkörben auf.
    Zwei junge Männer und ein Mädchen. Sie lachten vergnügt, und Joël machte sich darauf gefaßt, daß sie sich, keine zwölf Meter von ihm entfernt, an dem Picknicktisch niederlassen würden. Aber sie schienen, was den Rastplatz betraf, geteilter Meinung zu sein, jedenfalls diskutierten sie heftig miteinander. Joël wandte sich ab und stocherte mit dem Spaten in der frisch ausgehobenen Grube herum.
    Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren, sagte er sich. Falls dich wer fragt: Du pflanzt einen Baum.
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    »Mister! … Sir!« rief ihm das Mädchen zu, aber weiter kam sie nicht; zu sehr hatten die jungen Burschen hinter ihr sie mit ihrem Gelächter angesteckt. Sie trat näher. »Meine Freunde haben grade mit mir gewettet, Sir, daß ich Sie fragen würde … ich meine natürlich, nicht fragen würde
    …« (neuerliches Gelächter) »… ob Sie da Ihre Frau begraben.«
    Joels Gesicht verzog sich zu einem schüchternen Lächeln, aber er hielt den Kopf gesenkt. Er schnitt eine Grimasse und rieb sich die Nase. »Jawoll.« Er scharrte mit den Füßen und deutete auf den Wulst unter den Säcken, die mutmaßlich die Wurzeln seines Bäumchens schützten.
    »Sagen Sie Ihren Freunden, sie hätten's erfaßt: Ich verbud-dele hier meine Frau.«
    Das Mädchen wandte sich nach seinen Begleitern um and rief ihnen ein triumphierendes »Ja!« zu.
    Die jungen Burschen prusteten abermals los und wollten sich schier ausschütten vor Lachen.
    »Na, dann tschüs. Und danke – die Wette hab ich ge-ronnen«, sagte das Mädchen und lief den Hang hinunter.
    Sie trug eine enge Latzhose und Turnschuhe.
    Joël stützte sich auf seinen Spaten und schaute ihr nach.
    Es war vorbei. Als das Mädchen sich noch einmal umdrehte und ihm freundlich zuwinkte, rieb er sich wieder die Nase. Dann verschwand das Trio aus seinem Blickfeld.
    Perfekt, dachte

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