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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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Die sind ja tollwütig!«
    brüllte der rotgesichtige Mann und eilte mit großen Schritten zum Fenster.
    Maud sah wohl, daß der Mann in Rage war, aber wer hatte sie denn hierherein gebracht? Doch niemand anders als seine widerliche Brut. Just als der Mann die obere Hälfte des Fensters herunterließ, griff Maud ihn an. Er wehrte sie mit einem Ellbogen ab und duckte sich.
    Claud flog aus dem Fenster.
    »Nimm den Besen!« schrie die Frau und drückte ihn dem Mann in die Hand.
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    Maud wich dem Besen aus, flatterte auf den Geschirr-ständer über dem Spülbecken, krallte sich krampfhaft an einer Untertasse fest, und als sie sich abstieß und zum Fenster emporschwang, fiel das Tellerchen ins Becken und zerbrach.
    Wieder schrie die Frau auf, der Mann tobte, aber beider Gezeter verebbte, je weiter Maud davonflog. Etliche Meter weit trug sie die Kraft ihres Zorns, und dann ließ sie sich auf einer anständigen Straße nieder, wo sie wieder normal gehen und Atem schöpfen konnte. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Endlich raus aus diesem Irrenhaus! Großer Gott!
    Menschen wie die müßte man anzeigen! Maud reckte den Kopf und stieß bei jedem Schritt mit dem Schnabel in die Luft. Es gab Vereine – von Menschen! – jawohl –, die für die Tauben kämpften. Sie hatte selber gesehen, wie diese Leute auf dem Trafalgar Square Jungs daran hinderten, auf Tauben zu schießen oder auch nur nach ihnen zu werfen.
    Falls so einem Verein jemals diese Familie in die Hände fiele, dann würden sie denen aber die Hölle heiß machen.
    Wo war Claud?
    Maud blieb stehen und wandte sich um. Nicht, daß es sie sonderlich interessiert hätte, wo Claud abgeblieben war.
    Wenn sie sich direkt auf den Heimweg machte, wie sie es vorhatte, dann würde Claud sich abends schon einfinden, daran hegte sie keinen Zweifel. Und überhaupt, was hatte sie da drin für eine Stütze gehabt an ihm? Gar keine!
    Erst hörte sie seine Stimme. Dann tauchte er hinter ihr auf. Er wirkte völlig erschöpft, wie er ihr auf Beinen und Flügeln nacheilte. Maud schüttelte ihr Gefieder und ging weiter. Claud hielt sich jetzt neben ihr. Er grummelte ein 244
    bißchen, genau wie Maud, aber allmählich besänftigten sich beide. Immerhin hatten sie ihre Freiheit wieder, und sie waren auf dem Heimweg. Unvermittelt steuerte Maud einen Bus an. Claud folgte und schaffte es mit Mühe und Not bis aufs Dach. Haltsuchend kauerten sie sich aneinander. Manche Busse schlingerten ganz fürchterlich. Unterwegs mußten sie umsteigen und auf gut Glück einen anderen Bus nehmen, aber ihr Instinkt hatte sie nicht getrogen, und bald schon schaukelten sie über den Haymarket. Daheim! Und es war noch nicht mal dunkel. Der Himmel schimmerte rauchblau in Richtung der untergehenden Sonne.
    Es war, dachte Maud, noch Zeit, vor dem Schlafengehen ein paar Leckerbissen zu ergattern. Claud hatte die gleiche Idee, und so verließen sie in Whitehall den Bus und schwebten auf ihr vertrautes Terrain nieder.
    Es waren nicht mehr viele Tauben unterwegs. In den Schaufenstern flammten die ersten Lichter auf. Ihre Aus-beute war armselig und meist zertrampelt. Und Maud war müde und nicht recht auf dem Damm.
    Claud schoß ihr in die Quere und schnappte ihr einen Erdnußrest vor dem Schnabel weg.
    Maud stürzte sich flügelschlagend auf ihn. Warum gab sie sich nur mit diesem habgierigen Egoisten ab? Auf den im übrigen rein gar kein Verlaß war, ja, der nicht einmal das Nest beschützen konnte, wenn ein Ei drin lag!
    Claud revanchierte sich mit einem hinterhältigen Hieb nach ihrem Auge, der allerdings danebenging und sie nur am Kopf traf.
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    Und dann, urplötzlich – es war unmöglich festzustellen, ob die Initiative von Maud ausging oder von Claud –, griffen sie einen vorbeikommenden Kinderwagen an. Sie stürzten sich auf das Baby, hackten nach seinen Wangen, nach den Augen. Die junge Frau, die den Wagen schob, stieß einen Schrei aus und schlug so heftig nach den Tauben, daß sie Maud fast außer Gefecht gesetzt hätte. Doch binnen Sekunden kämpfte sie wieder Seite an Seite mit Claud im Wagen. Ein Paar eilte der Frau zu Hilfe, und die Tauben machten sich davon. Sie flogen über die Köpfe ihrer ohnmächtigen Gegner hinweg und ließen sich in einer Taubenschar nieder, die zu etlichen zwanzig rings um einen Abfallkorb nach Nahrung suchte.
    Als die Frau mit dem Kinderwagen und ihre beiden Se-kundanten sich den Tauben näherten, blieben Maud und Claud ganz gelassen, obwohl einige ihrer Artgenossen vor den

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