Die Augen des Drachen - Roman
nicht auf ihre Augen angewiesen, oder?«
DER GROSSE JUNGE lächelte. »Wohl kaum«, sagte er. »Weißt du, ich muss verrückt sein, aber wir werden das Blatt nehmen und die Karten ausspielen.«
»Natürlich werden wir das«, sagte sie. »Komm jetzt, Ben. Nutzen wir das noch verbleibende Tageslicht … es wird früh genug dunkel werden.«
Frisky, deren Nase von dem hellblauen Geruch erfüllt war, bellte unternehmungslustig.
99
Peters Abendessen kam an diesem Sonntagabend pünktlich um sechs Uhr. Die Sturmwolken hingen schwer über Delain, und die Temperatur war schon gefallen, aber der Wind wehte noch nicht, und noch keine einzige Schneeflocke war gefallen. Auf der anderen Seite des Platzes, in die gestohlene weiße Kleidung eines Küchenjungen gekleidet, stand Dennis frierend und ängstlich im tiefsten Schatten, den er finden konnte, und sah zu dem einzigen Lichtschein im winzigen Fenster auf der Spitze der Nadel empor - Peters Kerze.
Peter wusste selbstverständlich nichts von Dennis’ Nachtwache - er war von dem verwunderten Gedanken erfüllt, dass dies die letzte Mahlzeit sein würde, die er in dieser verdammten Gefängniszelle einnahm, ob er nun lebte oder starb. Es handelte sich wieder um zähes, versalzenes Fleisch, halbverfaulte Kartoffeln und verwässertes Bier, aber er würde alles aufessen. In den zurückliegenden drei Wochen hatte er kaum etwas gegessen, sondern fast ununterbrochen am winzigen Webstuhl gearbeitet, seine Übungen gemacht und seinen Körper auf die bevorstehende Belastung vorbereitet. Heute jedoch hatte er alles gegessen, was man ihm gebracht hatte. Heute Nacht würde er all seine Kraft brauchen.
Was wird aus mir werden?, fragte er sich, während er am Tisch saß und nach der Serviette griff, die über dem Essen lag. Wohin genau soll ich gehen? Wer wird
mich aufnehmen? Wird mich jemand aufnehmen? Alle Menschen, sagt man, müssen auf die Götter vertrauen, Peter … aber du vertraust so sehr, dass es schon fast lächerlich ist.
Hör auf. Was geschehen wird, wird geschehen. Nun iss, und denke nicht mehr an …
Aber hier brachen seine unruhigen Gedanken ab, denn als er die Serviette ausbreitete, verspürte er einen kleinen Stich, wie von einer Nadel.
Stirnrunzelnd sah er hinab und bemerkte einen winzigen Blutstropfen an der Kuppe des rechten Zeigefingers. Peter dachte zuerst an Flagg. In Märchen war es stets eine Nadel, die vergiftet war. Vielleicht war er gerade eben von Flagg vergiftet worden. Das war sein erster Gedanke, und der war gar nicht so abwegig, denn immerhin hatte Flagg schon einmal Gift benutzt.
Peter drehte die Serviette um und sah, dass ein winziger gefalteter Gegenstand mit dunklen Schmutzspuren daran festgesteckt war … Er legte die Serviette sofort wieder hin. Sein Gesicht blieb ruhig und gelassen und verriet nichts von der heftigen Erregung, die ihn beim Anblick der an die Serviette gehefteten Nachricht ergriffen hatte.
Er sah beiläufig zur Tür und fürchtete, dort einen der Unterwachmänner zu sehen - oder gar Beson selbst -, der ihn misstrauisch beobachtete. Aber es war niemand zu sehen. Der Prinz war Gegenstand großer Neugier gewesen, als er in die Nadel gebracht worden war, man hatte ihn begafft, wie man einen seltenen Fisch im Aquarium eines Sammlers begafft - manche hatten sogar ihre Liebchen heraufgeschmuggelt, damit sie sich das mordende Monster ansehen konnten (und sie wären selbst
eingesperrt worden, hätte man sie dabei erwischt). Aber Peter war ein vorbildlicher Gefangener, und das Interesse an ihm hatte bald nachgelassen. Jetzt bestaunte ihn niemand mehr.
Peter zwang sich dazu, das Essen ganz aufzuessen, obwohl er es gar nicht mehr wollte. Er wollte auf gar keinen Fall Argwohn erwecken - heute ganz besonders nicht. Er hatte keine Ahnung, von wem der Brief kam und was darin stand oder warum er ihn in eine solche Aufregung versetzte. Dass ausgerechnet jetzt eine Nachricht kam, Stunden vor seiner geplanten Flucht, schien ein Omen zu sein. Aber was für eines?
Nachdem er schließlich gegessen hatte, sah er noch einmal zur Tür, vergewisserte sich, dass die Luke geschlossen war, und nahm die Serviette ganz beiläufig zur Hand, fast so, als hätte er vergessen, dass sie überhaupt da war. Dann ging er ins Schlafzimmer. Dort löste er den Brief (seine Hände zitterten so sehr, dass er sich noch einmal stach) und faltete ihn auseinander. Er war auf beiden Seiten eng mit Buchstaben beschrieben, die unsicher und ein wenig kindlich ausgeführt waren,
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