Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
Vom Netzwerk:
berühmte Vorfall in den Stallungen ereignete. Peter log selten und trickste nie jemanden aus. Peter war klug und freundlich, groß und hübsch. Er ähnelte ihrer Mutter, die vom König und vom Volk von Delain so sehr geliebt worden war.
    Wie konnte Thomas sich mit solcher Güte messen? Eine einfache Frage mit einer ebenso einfachen Antwort. Er konnte es nicht.
    Anders als Peter war Thomas das Ebenbild seines Vaters. Das freute den alten Mann ein wenig, aber es verschaffte ihm nicht die Befriedigung, welche die meisten Männer empfinden, wenn sie einen Sohn haben, der ihre
Züge trägt. Wenn er Thomas betrachtete, war es zu sehr, als sähe er in einen durchtriebenen Spiegel. Er wusste, dass Thomas’ feines blondes Haar frühzeitig ergrauen und ausfallen würde; mit vierzig würde Thomas kahl sein. Er wusste, Thomas würde niemals groß sein, und wenn er auch noch seines Vaters Appetit auf Bier und Met geerbt hatte, würde er mit fünfundzwanzig einen gewaltigen Bauch mit sich herumschleppen. Seine Zehen krümmten sich bereits einwärts, und Roland vermutete, dass er bald mit dem ihm eigenen schwankenden Gang gehen würde.
    Thomas war nicht gerade ein guter Junge, aber deshalb müsst ihr nicht denken, dass er ein böser Junge war. Er war manchmal ein trauriger Junge, häufig ein verwirrter Junge (er geriet in noch einer Hinsicht ganz nach seinem Vater - das Denken machte seine Nase verstopft, und ihm war zumute, als würden Wackersteine in seinem Kopf herumrollen) und oft ein eifersüchtiger Junge, aber er war kein böser Junge.
    Auf wen er eifersüchtig war? Nun, auf seinen Bruder natürlich. Er war eifersüchtig auf Peter. Es genügte nicht, dass Peter König sein würde. O nein! Es genügte nicht, dass ihr Vater Peter lieber mochte, oder dass die Diener Peter lieber mochten, oder dass die Lehrer Peter lieber mochten, weil er im Unterricht stets aufmerksam war und nicht gezwungen werden musste. Es genügte nicht, dass jeder Peter lieber mochte oder dass Peter einen besten Freund hatte. Da war noch etwas.
    Wenn irgendjemand Thomas ansah, besonders sein Vater, der König, dann glaubte Thomas zu wissen, was sie dachten: Wir haben deine Mutter geliebt, und du hast ihr durch deine Geburt das Leben genommen. Und
was brachten uns das Leid und der Tod, die du verursacht hast? Einen tumben Jungen mit rundem Gesicht, das fast kein Kinn hat, einen tumben kleinen Jungen, der erst mit acht Jahren alle fünfzehn Buchstaben des Alphabets kannte. Dein Bruder Peter kannte sie schon mit sechs. Was brachte es uns? Nicht viel. Warum bist du gekommen, Thomas? Was taugst du? Rückversicherung für den Thron? Mehr bist du nicht? Eine Rückversicherung für den Thron, falls Peter der Prächtige von seiner hinkenden Mähre herabstürzen und sich das Genick brechen sollte? Ist das alles? Nun, wir wollen dich nicht. Keiner von uns will dich. Keiner von uns will dich …
    Die Rolle, welche Thomas bei der Gefangennahme seines Bruders spielte, war unrühmlich, aber trotzdem war er im Grunde kein böser Junge. Das glaube ich ganz fest, und mit der Zeit werdet ihr sicher auch so denken.

16
    Einmal, als siebenjähriger Junge, verbrachte Thomas einen ganzen Tag in seinem Zimmer und schnitzte ein Modellsegelboot für seinen Vater. Er tat es, ohne zu wissen, dass sich Peter an eben diesem Tage auf dem Bogenschießgelände im Beisein seines Vaters mit Ruhm überhäuft hatte. Peter war für gewöhnlich kein überragender Bogenschütze - wenigstens auf diesem Gebiet war Thomas, wie sich herausstellen sollte, seinem Bruder weit überlegen -, aber an diesem Tag hatte Peter die Ziele für Junioren getroffen, als liefe sein Pfeil auf einer Schnur. Thomas war ein trauriger Junge, ein verwirrter Junge, und häufig ein glückloser Junge.
    Thomas war auf die Idee mit dem Boot gekommen, weil sein Vater manchmal sonntagnachmittags zum Burggraben, der um das Schloss lief, hinausging und Modellschiffe schwimmen ließ. Solche schlichten Vergnügungen machten Roland außerordentlich glücklich, und Thomas vergaß nie den Tag, an dem sein Vater ihn - und nur ihn - mitgenommen hatte. In jenen Tagen hatte Roland einen Ratgeber, dessen einzige Aufgabe darin bestand, dem König zu zeigen, wie man Papierschiffe faltete, für die der König sich begeistern konnte. An diesem Tag war ein moosbewachsener alter Karpfen aus dem schlammigen Wasser aufgetaucht und hatte eines von Rolands Papierschiffen voll und ganz verspeist. Roland hatte gelacht wie ein kleiner Junge und

Weitere Kostenlose Bücher