Die Augen Rasputins
Schlafzimmer. Er fühlte sich wie zerrissen, schwankend zwischen den drängenden Bedürfnissen wie dem Wunsch, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen oder loszubrüllen, und dem, was der Verstand ihm einflüsterte. Ganz ruhig, Ed, ganz ruhig. Du brauchst Anhaltspunkte, und um die zu bekommen, mußt du den Mann dir gegenüber erst einmal aus der Reserve locken.
»Er war immer ein Einzelgänger «, sagte Edmund. Kleiber grinste freudlos.
»Sie scheinen ja eine Menge über ihn zu wissen. Hatten Sie mal persönlich mit ihm zu tun? «
Es widerstrebte Edmund, von den Therapiestunden mit ihr zu sprechen, von den ersten zehn oder zwölf. Nachdem es ihm in der vierten Stunde endlich gelungen war, sie aus ihrer Starre zu reißen. Von dem anfangs noch traumverlorenen Blick, mit dem sie Schramms Heldentaten andeutungsweise preisgab. Die Geschäfte mit jungen Männern, die nur in Diskotheken abgewickelt wurden, nach denen er die Geldscheine gebündelt in der Hosentasche trug. Die Fahrten nach Amsterdam. Und um jeder Grenzkontrolle zu entgehen, hatte Schramm sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Er packte sein Auto mit Koffern voll, zahlte einer jungen Frau, die nachts in einer Diskothek das Geld für sich und zwei kleine Kinder verdiente, ein oder zwei Scheine, lud sie mitsamt ihren Kindern ein. Und dann ging es los. Zu Patrizia hatte er damals gesagt:
»Ich weiß, wie die Leute darüber denken, ein Dealer ist für sie der allerletzte Dreck. Aber die müßten mal gesehen haben, wie so einem armen Schwein zumute ist, wenn es keinen Stoff bekommt. Dann würden sie das anders sehen. Ich hab’s oft genug erlebt, wenn sie zusammenbrechen. Die sind krank, Püppi, richtig krank. Die brauchen das Zeug wirklich. Und ich hol’s eben. Natürlich ist das für mich ein Risiko. Aber das halte ich so klein wie möglich, wenn ich die Frau und die Kinder mitnehme. So eine junge Familie auf Urlaub wird immer durchgewinkt. Und so kommt die arme Maus wenigstens mal zu ein bißchen Erholung. Die fahre ich immer ans Wasser. «
Und übertrieben hatte er es nicht mit seinen Fahrten, nicht aus Angst vor der Polizei, nur aus Respekt vor den Kartellen, die das Geschäft im großen Stil betrieben. Mit denen hatte er sich nicht anlegen wollen, war jedoch auch nicht bereit gewesen, für sie zu arbeiten.
»Leute wie er «, sagte Edmund,»schließen sich niemandem an. Warum sollten sie auch? «
Als er weitersprach, bot er Kleiber die Erkenntnis, die er auch Patrizia eingehämmert hatte. Zu der er irgendwann gekommen war, nachdem er diese Akten wieder und wieder gelesen hatte. All diese Widersprüche. Ein kleiner Gauner und der große Boß im Hintergrund. Vielleicht war der kleine Gauner selbst der große Boß. Hatte es sich nicht verkneifen können, der Polizei zumindest einen Hinweis auf den Mann zu geben, mit dem sie es tatsächlich zu tun hatten. Ein gefährlicher Mann, eiskalt und sorgfältig planend.
»Und es gab garantiert keinen Boß im Hintergrund «, sagte Edmund,»das liegt doch auf der Hand. So ein Mann hätte nicht zugelassen, daß Schramm sich nach dem Überfall daheim ins Bett legt. So ein Mann hätte dafür gesorgt, daß er noch in der gleichen Nacht untertaucht oder auf andere Weise verschwindet. Bei der Figur, die er vor der Polizei und vor Gericht abgegeben hat, wäre das Risiko für den ›Boß‹ viel zu groß gewesen. Sehen Sie, das ist der springende Punkt, bei der Figur. Jeder hat ihm die Rolle des Trottels abgekauft. «
»Ich nicht «, widersprach Kleiber mit einem Lächeln.
»Ein Trottel hätte versucht, seine Haut zu retten. Er nicht. Er wußte genau, was gut für ihn war. Er hatte seine Anweisungen, und daran hat er sich gehalten. «
Edmund schüttelte energisch den Kopf:
»Nein! Der hat Sie tatsächlich an der Nase herumgeführt. Aber anders, als Sie sich das vorstellen. «
Kleiber war es leid.
»Na schön, und jetzt hat er Ihnen die Frau vor der Nase weggeschnappt, deshalb sind Sie doch hier?! Oder wollen Sie uns helfen, einen alten Fall aufzuklären? Tut mir leid, Herr Bracht, da gibt es nichts mehr zu klären. «
Er machte eine winzige Pause, vielleicht nur, um Atem zu holen, ehe er in leicht gereiztem Ton fortfuhr:
»Es gibt Dinge, die kann auch ein genialer Einzelgänger nicht im Alleingang regeln. Das Ding war so eins. «
Dann schilderte er Edmund, wie er die Sache sah, damals wie heute. Oberflächlich betrachtet, eine einfache Sache, rein und raus, ohne Risiko. Aber das Risiko fing
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