Die Augen
Ihnen reden, Miss Barnes. Wenn möglich heute.«
»Wenn Sie auf mich warten wollen, nur zu.« Ihr Tonfall war gleichgültig, doch den festen Blick ihrer goldenen Augen wandte sie nicht einen Moment von ihm ab. »Es kann ein Weilchen dauern.«
»Ich werde warten«, sagte John.
Hollis war wach, gab diesen Umstand jedoch mit keiner Bewegung und keinem Geräusch zu erkennen. In den ersten Sekunden war es immer so – Anspannung und Entsetzen, bis ihr verwirrter Verstand den Albtraum hinter sich ließ und zur Wirklichkeit aufschloss.
Die ebenfalls ein Albtraum war. Der Verband über ihren Augen – über der Stelle, an der einst ihre Augen gewesen waren – wurde allmählich zu einem vertrauten Gewicht. Sie wusste noch nicht, was sie davon halten sollte, dass sich unter dem Verband nun die Augen von jemand anderem befanden. Einem Unfallopfer, das gestorben war, jedoch einen unterschriebenen Organspenderausweis hinterlassen hatte.
Der Chirurg war stolz auf seine bahnbrechende Arbeit. Er war überrascht und recht betrübt gewesen, als Hollis nur eine einzige Frage gestellt hatte, die zudem seiner Meinung nach irrelevant war.
»Welche Farbe sie haben? Miss Templeton, ich glaube, Sie begreifen nicht, wie komplex …«
»Ich begreife es, Doktor. Ich begreife, dass Sie glauben, die Medizin sei so weit fortgeschritten, dass ich mit den Augen dieser armen Frau werde sehen können. Und ich begreife, dass es noch Tage, wenn nicht gar Wochen dauert, bis wir wissen, ob Sie Recht haben. Einstweilen frage ich Sie, welche Farbe meine … neuen … Augen haben.«
Blau, hatte er gesagt.
Ihre alten waren braun gewesen.
Würde sie wieder sehen können? Sie wusste es nicht, und sie vermutete, dass auch ihr Arzt, all seinem Vertrauen in seine Fähigkeiten zum Trotz, über das Resultat im Ungewissen war. Der Sehnerv war eine heikle Angelegenheit, das brauchte er ihr nicht zu sagen. Und dann waren da all die anderen Nerven, die Blutgefäße, die Muskeln. Viel zu viele winzige Verbindungen, als dass man sicher sein könnte. Sie gingen nicht davon aus, dass ihr Körper die neuen Augen abstoßen würde, und die Medikamente zur Unterdrückung der Immunabwehr würden es wahrscheinlich auch verhindern, aber niemand schien sich auch nur annähernd so sicher zu sein, wie ihr Gehirn reagieren würde.
Sehen war schließlich ebenso sehr die Interpretation von Bildern durch den Verstand wie alles andere. Die komplizierte Verbindung zwischen dem Organ und dem Gehirn war unterbrochen und mühevoll wiederhergestellt worden – wer wollte da sagen, wie die Reaktion ihres Gehirns aussehen würde?
Verdammt noch mal, vielleicht war es gar kein Wunder, dass sie nicht wusste, wie sie in dieser Hinsicht empfand!
Die meisten übrigen körperlichen Verletzungen waren erstaunlich geringfügig gewesen, wenn man bedachte, was sie durchgemacht hatte. Die gebrochenen Rippen heilten, auch wenn sie noch sehr vorsichtig atmete, und die Ärzte hatten das Loch in der Lunge geflickt. Einige Stiche hier und da. Kratzer und blaue Flecke.
Ach – und sie würde nie Kinder bekommen können. Na und? Kein Kind verdiente es, dass man ihm eine wahrscheinlich blinde, auf jeden Fall aber emotional zerrüttete Mutter aufbürdete, richtig? Richtig.
Ich weiß, dass du wach bist, Hollis.
Sie bewegte sich nicht, nicht einmal den Kopf. Wieder diese Stimme, ruhig und beharrlich wie praktisch jeden Tag in den vergangenen drei Wochen. Sie hatte einmal eine Krankenschwester gefragt, wer das sei, der sie immer besuchen käme und Stunde um Stunde an ihrem Bett säße. Doch die Schwester hatte gesagt, das wisse sie nicht, sie habe niemanden gesehen außer den Polizisten, die regelmäßig kamen, um ihr sanft Fragen zu stellen, die Hollis nicht beantwortete.
Bisher hatte Hollis sich ebenso geweigert, die Stimme zu befragen, wie sie sich weigerte, mit der Polizei zu sprechen oder mehr als das absolut Notwendige mit den Ärzten und Schwestern zu reden. Sie war noch nicht bereit, darüber nachzudenken, was mit ihr geschehen war, geschweige denn darüber zu reden.
Du wirst bald nach Hause können, sagte die Stimme. Was wirst du dann tun?
»Mich vor einen Bus zu werfen wäre vielleicht eine gute Idee«, sagte Hollis ruhig. Sie sprach laut, um sich daran zu erinnern, dass ihre Stimme wirklich die einzige Stimme im Raum war. Selbstverständlich war sie das. Denn die andere Stimme war logischerweise nur ein Produkt ihrer Fantasie.
Wenn du wirklich sterben wolltest, wärst du niemals aus
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