Die Augen
diesem Gebäude gekrochen.
»Und wenn ich rationale Plattitüden von einer Ausgeburt meiner Fantasie wollte, würde ich weiterschlafen. Oh, warte – ich schlafe schon. Ich träume. Das ist alles nur ein schlimmer Traum.«
Du weißt es besser.
»Meinst du, was passiert ist? Oder meinst du, du wärst überhaupt kein Produkt meiner Einbildung?«
Statt darauf zu antworten, sagte die Stimme: Wenn ich dir einen Klumpen Ton gäbe, was würdest du daraus machen, Hollis?
»Was ist das für eine Frage? Eine von diesen Tintenfleckfragen? Psychoanalysiert mich mein Hirngespinst hier etwa?«
Was würdest du machen? Du bist Künstlerin.
»Ich war Künstlerin.«
Vorher hast du Kunst geschaffen mit deinen Händen und deinen Augen und deinem Verstand. Ob die Operation nun erfolgreich war oder nicht, du hast immer noch deine Hände. Du hast immer noch deinen Verstand.
Hollis fiel auf, dass die Stimme auch nicht daran glaubte, dass sie mit diesen geborgten Augen würde sehen können. »Ich soll mich also einfach in eine Bildhauerin verwandeln? Ganz so einfach ist das nicht.«
Ich habe nicht gesagt, es sei einfach. Ich habe nicht gesagt, es sei leicht. Aber es wäre ein Leben, Hollis. Ein erfülltes, kreatives Leben.
Nach einem Augenblick sagte Hollis: »Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich weiß nicht, ob ich den Mut habe, noch einmal von vorne anzufangen.«
Dann musst du es eben herausfinden, oder?
Gegen ihren Willen musste Hollis lächeln. Ihr Hirngespinst hatte also doch mehr zu bieten als Plattitüden. Und die Herausforderung empfand sie als unerwartet erfrischend. »Ich denke schon. Entweder das oder mich doch noch vor den Bus werfen.«
»Miss Templeton? Haben Sie mit mir geredet?« Die Tagesschwester näherte sich zögernd.
Hollis lernte allmählich, Schritte zu erkennen, auch die beinahe lautlosen der Krankenschwestern. Die Schwester fürchtete um Hollis’ geistige Gesundheit; nicht zum ersten Mal ertappte sie ihre Patientin bei Selbstgesprächen.
»Miss Templeton?«
»Nein, Janet, ich habe nicht mit Ihnen gesprochen. Habe nur wieder mit mir selbst geredet. Es sei denn, es sitzt jemand auf dem Stuhl da an meinem Bett.«
Argwöhnisch erwiderte Janet: »Nein, Miss Templeton, auf dem Stuhl sitzt niemand.«
»Ah. Tja, dann muss ich wohl Selbstgespräche geführt haben. Aber machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Das habe ich auch vor dem Überfall schon getan.« Sie hatte gelernt, es so zu nennen, den »Überfall«. Das war die Bezeichnung, welche die Ärzte, die Schwestern und die Polizisten verwendeten.
»Kann ich … kann ich Ihnen irgendetwas bringen, Miss Templeton?«
»Nein, Janet, danke. Ich denke, ich mache ein Nickerchen.«
»Ich sorge dafür, dass Sie keiner stört, Miss Templeton.« Hollis hörte, wie die Schritte sich entfernten, und gab vor zu schlafen. Das fiel ihr nicht schwer.
Der schwere Teil war, nicht laut zu fragen, ob die Stimme noch da war. Denn das konnte selbstverständlich nicht sein. Es sei denn, sie wäre wirklich verrückt.
»Wir sind kein bisschen weiter als vor sechs Wochen, als Sie hier waren.« Lieutenant Luke Drummond, der Leiter dieser Abteilung der Seattler Kriminalpolizei, war es gewohnt, seinen Vorgesetzten Bericht zu erstatten. Doch es missfiel ihm, dass er gezwungen war, einem Zivilisten gegenüber Einzelheiten aus einer laufenden Ermittlung preiszugeben, und sein Unwille war ihm anzumerken. Zumal er keine Fortschritte zu verzeichnen hatte.
»Seither hat es zwei weitere Opfer gegeben.« John Garrett sprach mit ruhiger Stimme. »Und immer noch kein Beweis, keine Spuren, die Sie der Identifizierung dieses Schweins näher bringen?«
»Er ist sehr gut in dem, was er tut«, versetzte Drummond.
»Und Sie nicht?«
Drummonds Augen wurden schmal, und er lehnte sich trügerisch entspannt auf seinem Stuhl zurück. »Ich habe hier eine Truppe äußerst fähiger und erfahrener Kriminalpolizisten, Mr Garrett. Wir haben außerdem ein paar verdammt gute Spurensicherungsexperten auf unserer Gehaltsliste, und unsere Ausrüstung ist auf dem neuesten Stand der Technik. Aber das alles nutzt uns gar nichts, wenn es keine Spuren gibt und keine Zeugen, die man befragen könnte, und wenn die Opfer, um es vorsichtig zu formulieren, traumatisiert sind und uns nicht groß weiterhelfen können.«
»Was ist mit Maggie Barnes?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Hat sie nicht irgendwas Brauchbares gefunden?«
»Nun, wie mich immerzu alle erinnern: Was sie da macht, ist Kunst – und die kann
Weitere Kostenlose Bücher