Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman
Wenn so viele Menschen eng beisammen stehen, dann entsteht also Strom, dachte Herr Faustini. Er ging schnurgerade über den Platz zwischen zwei Menschentrauben hindurch. Dabei verkleinerte er seine Augen zu Sehschlitzen, um umso stärker den Strom der Menschen aufnehmen zu können. Hundert Stimmen durchflossen ihn, ein Dutzend verschiedene Duschöle zogen an seiner Nase vorbei, ihm schwindelte leicht, doch schon verebbte der Strom, er war durch, seine Batterien würden eine Zeitlang reichen. Um die nächste Hausecke herrschte Leere, die Stadt war verschwunden. Herr Faustini konnte getrost in den Zug steigen, das Magazin der Stadt Dornbirn weglegen und hernach mit dem Bus nach Hörbranz schaukeln.
Diesmal würde der Vorsitzende der Wahlkommission pünktlich zum Wahlsonntagsmittagessen zu Hause sein. Die Mitglieder der Wahlkommission würden Herrn Faustini frühmorgens an ihrem Wahllokal vorübergehen sehen. Da es jedem nun freistand, die Wahl zu ignorieren, würden sie sich darauf einigen, diesmal Herrn Faustini zu ignorieren. Sein Fernbleiben würde sich positiv auf die Ästhetik des Dorfergebnisses auswirken.
2
Ein paar Tage später hatte Herr Faustini entgegen seiner Gewohnheit ein festes Ziel: seine erste Therapiestunde. Er hatte nämlich das Telefonbuch aufgeschlagen beim Buchstaben P wie Psychotherapie, obgleich er leises Misstrauen gegen die in jedem Dorfkern im frisch renovierten Ärztehaus ansässigen Psychotherapeuten hegte.
Von den acht eingetragenen Therapeuten waren drei Frauen. Unter den Frauen hatte er die mit dem angenehmsten Namen ausgewählt: Angela Nussbächle. Einer Engelin würde er sich doch anvertrauen können? Besonders wenn die Engelin von einem Nussbaum nahe einem kleinen Bach herstammte.
Herr Faustini fuhr nach Dornbirn, schritt ohne Ich-Verlust durch die Bahnhofstraße, stieg im Psychotherapeutenhaus die Treppe hinauf, klingelte, trat nach dem Summton ein, führte sich ins Wartezimmer, nahm Platz, und ein freundliches Gesicht lugte aus dem Behandlungszimmer und bat ihn einzutreten. Herrn Faustini schien es, er ginge in Zeitlupe über die Schwelle. Sein erster Besuch bei einer Psychotherapeutin war schon eine Zeitverzögerung wert. Niemals hätte er daran gedacht, sich selbst in Reparatur zu geben. Aber es musste sein, bevor der Riss irreparabel wurde. So hatte es Herr Faustini mit Elektrogeräten auch stets gehalten. Bis der Tag kam, an dem er beim Elektriker mit seinem alten Rasierapparat belächelt wurde, als wäre der ein Fundstück aus prähistorischer Zeit. Gerade dass man ihn nicht ans Landesmuseum verwies, denn wer weiß, vielleicht böte dieses Gerät bald einen so ungewöhnlichen Anblick wie die Versteinerung einer Meeresschnecke auf viertausend Metern Seehöhe.
Was führt Sie zu mir?, fragte Frau Nussbächle mit ausbalancierter Freundlichkeit. Zugleich mit der Freundlichkeit schwang auf dem Resonanzboden ihrer Stimme die Bereitschaft, sich nun eines Problembergs anzunehmen und ihn Schicht für Schicht umzugraben. Frau Nussbächles Augen ruhten mit einer ihm bislang unbekannten Verbindlichkeit auf Herrn Faustini. So war das wohl, wenn man einen Menschen in Reparatur gab. Schließlich war der Mensch das heikelste Präzisionsinstrument, noch heikler als sein alter Braun-Rasierer – requiescat in pacem – je gewesen war.
Ich habe, sagte Herr Faustini vorsichtig, und noch vorsichtiger sprach er weiter: einen Riss. In Frau Nussbächles Augen keine Reaktion. Oder besser, fügte Herr Faustini mit etwas mehr Mut hinzu, einen Zwischenraum. Ich habe so ein Gefühl, nein, das ist es nicht, ich habe mehr so ein Gefühl, als hätte ich ein Gefühl. Weil mir nicht mehr klar ist, wen ich eigentlich meine, wenn ich Ich sage.
In Frau Nussbächles Augen keine Reaktion.
Aber ich möchte nicht vom Riss ablenken, sagte Herr Faustini jetzt schon wie selbstverständlich. Alles ist indirekt. Ich sehe jemanden über die Straße gehen und ich höre in mir jemanden sagen: Jemand geht über die Straße. An einem Gartenzaun sagt ein Mann zu einem anderen: Das Kricket-Spiel ist auch nicht rasenschonend. Ich gehe in diesen Satz hinein und finde den Ausgang nicht. Was geht mich das Kricket-Spiel an? Direkt und indirekt gar nichts. Über so einen Satz wäre ich früher drübergestiegen wie über ein Brett auf einer Baustelle, die versehen ist mit dem Hinweis: Betreten der Baustelle verboten. Jetzt bleibe ich in irgendeiner Krümmung eines solchen Geht-mich-doch-nichts-an-Satzes hängen und finde nicht
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