Die Auserwählte: Roman (German Edition)
sich die Tränen weg, und ich blinzelte, da ich mir nicht sicher war, ob ich tatsächlich sah, was ich zu sehen glaubte. Der Schorf löste sich von seinen Augenlidern und flatterte zu Boden, als habe es sich dabei nur um Bühnen-Make-up gehandelt, das ihm ins Gesicht geklebt worden war. Das musste es sein. Aber die Pusteln um seinen Mund … wirkten leichter, als würden sie austrocknen und verschwinden.
»Musik!«, rief Prophet. »Lasst uns singen! Lasst uns in der Herrlichkeit des Lichts Gottes frohlocken!«
Der unsichtbare Pianist spielte die ersten Noten einer vertrauten Melodie, dann sang die ganze Menge und wiegte sich hin und her, während eine schwangere Frau auf die Bühne gezerrt wurde, deren gewölbter Bauch hervorragte wie eine ausgestreckte Hand.
»Ich werde eine unverheiratete Mutter sein«, verkündete sie mit vor Scham dunkelrot verfärbten Wangen über die Lautsprecheranlage. »Ich bin schon mein ganzes Leben lang eine Sünderin, und ich möchte nicht, dass mein Kind für meine Sünden büßen muss. Bitte, Prophet, geben Sie ihm Ihren Segen. Geben Sie ihm Gottes Segen.«
Prophet legte der schwangeren Frau die Hände auf den Bauch. Sie warf den Kopf in den Nacken, krümmte sich und schrie ekstatisch auf.
Mein Magen fühlte sich an, als befände er sich in einem Aufzug, und stieg mir in die Kehle. Ich schluckte und schluckte, aber er wollte sich nicht wieder senken. Ich hätte gerne das Zelt verlassen, doch die Menge drängte sich von allen Seiten gegen mich, und meine Mom war irgendwo unter den Anwesenden. Ohne sie konnte ich nicht gehen. Ich konnte sie nicht bei diesen Verrückten zurücklassen, ganz egal, wie gerne sie unter ihnen war.
Ich ließ den Blick abermals über die Menge wandern. Ich war die einzige Person im Weißen Zelt, die nicht gebannt in Richtung Bühne sah.
Dann sah ich aus dem Augenwinkel den nächsten Bittsteller, den die Apostel auf die Plattform brachten, und das Blut in meinen Ohren pochte so laut, dass es alle anderen Geräusche übertönte.
Der Mann, der die kurze Treppe erklomm, musste beinahe getragen werden, allerdings nicht gegen seinen Willen. Er war verletzt. Er hätte ins Krankenhaus gehört. Auf eine Station für Brandopfer.
Er hätte eigentlich tot sein sollen.
Das Gesicht des Dealers war auf einer Seite verformt wie eine geschmolzene Kerze und bestand zu einem größeren Teil aus rohem Gewebe als aus normaler Haut. Seine Wunden nässten, und über sein versengtes Fleisch lief ein stetiger Strom gelblicher Flüssigkeit, der die vergilbten Verbände an seinen Schultern und seinem Oberkörper durchtränkte.
Nach dem kollektiven Nach-Luft-Schnappen der Menge beim Anblick des zerstörten Gesichts des Dealers legte sich eine neue Stille, die tiefer war als je zuvor, wie eine Decke über uns.
Prophet konnte den Dealer jedoch nicht sehen. Er näherte sich dem Mann, wie er sich jedem anderen Bittsteller genähert hätte, der zu ihm kam.
»Warum kommst du zu mir, Bruder?«, fragte Prophet. »Möchtest du Gott deine Seele darbringen?«
»Ich …«, begann der Dealer, und schon die eine Silbe ließ ihn vor Schmerz aufstöhnen. »Ich habe mir sagen lassen, Sie könnten mich heilen«, vollendete er seinen Satz hastig, wobei er zusammenzuckte und dann so erbärmlich zu schluchzen begann, dass selbst ich, die ich die Umstände kannte, die zu seinen Verletzungen geführt hatten, Mitleid mit ihm empfand.
Prophet näherte sich dem Dealer. »Ich biete meinen Jüngern Heilung an, ja. Aber du bist keiner meiner Jünger, nicht wahr?«
»N-n-nein«, schluchzte der Dealer.
Prophet wandte sich ab. »Dann kann ich nichts für dich tun.«
»Halt! Ich werde alles tun, werde Gott meine Seele hingeben, aber bitte heilen Sie mich!« Ein weiterer Wortschwall, der dem Dealer solche Qualen verursachte, dass er nicht einmal mehr schluchzen konnte. Nur ein Laut, der wie ein erstickter Schrei klang, entwich zwischen seinen gefletschten Zähnen.
Prophet drehte sich langsam wieder zu ihm um. Er schnippte mit den Fingern, und seine Apostel, die sich in der Menge befanden, kehrten zu ihm zurück wie Brieftauben.
»Sei still, Bruder. Du wirst einen Schmerz spüren, aber er wird nur von kurzer Dauer sein, verglichen mit dem, was deine Seele bis in alle Ewigkeit in der Hölle erleiden würde.« Prophet legte dem Dealer die Hand leicht auf den Kopf, und dessen beinahe stummer Schrei wurde lauter. Dann reichte Prophet dem Zwillingsbruder seine andere Hand, und die übrigen Apostel reichten
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