Die Auserwählte: Roman (German Edition)
sich ebenfalls die Hände und bildeten einen Kreis um Prophet und den Dealer, bis die Sicht auf die beiden völlig versperrt war.
Schon wieder ein Kreis, dachte ich. Wie bei den Suchenden. Es hatte den Anschein, als hätten die Suchenden und die Jünger mehr gemein, als Mr Kale zugeben wollte.
»Ich empfange die Seele dieses Mannes im Namen Gottes«, sagte Prophet. »Er soll geheilt werden!«
Ich hätte nicht atmen können, selbst wenn ich es versucht hätte.
Die Apostel schlossen die Augen und drückten sich fest die Hände. In meinen Ohren ertönte ein klingelndes Geräusch, das so laut war, dass ich den schrillen, klagenden Schrei des Dealers fast nicht hörte. Die Luft um mich herum schien zu vibrieren, als befänden wir uns alle in einer Glocke, die jemand geläutet hatte.
Und dann war es vorbei. Die Apostel ließen ihre Hände los, traten zurück und gaben den Blick auf Prophet frei, dessen Hand noch immer auf dem Kopf des Dealers ruhte und … o mein Gott.
Prophet ließ die Hand sinken und rief: »Seht her! Dieser Mann wurde errettet!«
Das Gesicht des Dealers war wieder unversehrt. Die Verbrennungen waren verschwunden. Man konnte nicht die geringste Spur einer Narbe erkennen. Es hatte den Anschein, als hätten die Verbrennungen nie existiert.
Die Augen des Dealers funkelten verzückt, als er sein Gesicht abtastete. Er fing zu lachen an, zunächst leise, dann immer lauter, bis er in schrilles Gelächter ausbrach. Er riss sich die Verbände von den Armen und vom Oberkörper und stand schließlich bis zur Taille nackt da. Seine Haut war makellos. Perfekt.
»Ich bin ein neuer Mensch!«, rief er. Seine Augen leuchteten und wirkten gleichzeitig seltsam leer. »Gott ist gut!«
Die Menge brach in Jubel und Geschrei und Echos von »Gott ist gut! Gott ist gut!« aus.
»Wer möchte noch errettet werden?«, rief Prophet, und obwohl die Menge bereits zuvor getobt hatte, war das nichts gewesen im Vergleich zu der Hysterie, von der die Jünger jetzt ergriffen wurden.
Ein Apostel führte den Dealer von der Plattform herunter, während die anderen wieder in der Menge verschwanden. Die Klaviermusik und der Gesang begannen aufs Neue.
Ich konnte nicht aufhören, auf die Bühne zu starren. Auf Prophet in seinem weißen Anzug mit seinem weißen Haar und seinen weißen Augen.
Es war ein Wunder. Ich war soeben Zeuge eines wahren Wunders geworden. Prophet konnte das Ganze nicht vorgetäuscht haben. Die Wunden des Dealers waren echt gewesen. Das Wunder war echt gewesen.
Es war echt gewesen. Alles davon.
»Mia Price? Du bist es, nicht wahr?«
Ich verstand meinen Namen wegen des Gesangs nur mit Mühe. Ich drehte mich um und hoffte, betete vielleicht sogar, dass ich ins Gesicht meiner Mom blicken würde.
Doch es war nicht meine Mom, die mich angesprochen hatte. Es war Rachel, der reformierte Grufti, die ganz in meiner Nähe stand. Sie kam durch die Menge auf mich zu. Erstaunlicherweise bereitete ihr das keine Probleme. Niemand schien ihr den Weg zu versperren.
Ihr Lächeln nahm die Hälfte ihres Gesichts ein. Sie wirkte wie betrunken, ihr Blick war verträumt und entrückt. »Ist das nicht beeindruckend? Die Energie so vieler guter Menschen. Spürst du sie?«
Alles, was ich spürte, war Übelkeit.
»Gefällt deiner Freundin ihr neuer Haarschnitt?«, fragte Rachel mit einem Lachen in den Augen.
Ich versuchte, mich von ihr zu entfernen, wieder in der Menge unterzutauchen, doch sie stürzte sich auf mich. Mir fiel wieder ein, wie kräftig ihre Hände waren. Sie erwischte mich und hielt mich fest. »Bist du hier, um uns zu bespitzeln, Mia Price? Hast du welche von deinen Freunden bei den Suchenden mitgebracht?«
»Du bist doch krank«, sagte ich ihr.
»Nein«, erwiderte sie und schüttelte langsam den Kopf. »Ich bin errettet.«
Dann fing Schwester Rachel an, lauter als der Gesang zu schreien. »Heuchlerin!«, rief sie.
Sie schubste mich in Richtung Bühne. Die Menge teilte sich vor uns.
»Dieses Mädchen ist eine Spionin! Eine Heuchlerin!«
Prophet hob die Hände, um für Ruhe zu sorgen, die er auch bekam, sodass das Wort »Heuchlerin!«, als Rachel es zum letzten Mal rief, durch das ganze Zelt tönte.
Mein Blut kochte, und ich atmete schwer und schnell. Schließlich ließ mich Schwester Rachel los, doch ich war zu benommen, um mich zu bewegen. Ich wollte weglaufen, war jedoch zwischen Wänden aus Menschen eingesperrt.
Die Apostel näherten sich mir von allen Seiten.
Prophet signalisierte den Zwillingen mit
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