Die Auserwählte: Roman (German Edition)
Mann.«
Ich machte den Mund auf, um ihr zuzustimmen, brachte jedoch kein Wort heraus. Ein Klopfen an der Tür rettete mich.
Was geschah mit der neuen Mia? Ich brauchte einen weiteren Segen, beschloss ich. Prophet musste meinen Kopf wieder ins Lot bringen.
Ich fragte mich, ob es wohl möglich wäre, die alte Mia in ein künstliches Koma zu versetzen. Für immer.
Zögerlich drückte Jeremy – Jeremiah – die Tür auf. Er sah nicht mich an, sondern Mom. »Ms Price«, sagte er, »mein Vater wünscht, dass Sie jetzt zu ihm kommen.«
Mom warf mir einen Blick zu. »Er möchte mich ständig bei sich haben«, wiederholte sie abermals. Dann eilte sie zur Tür und ließ Jeremy und mich allein.
Jeremy machte die Tür hinter sich zu.
Und schloss sie ab.
»Wir müssen uns unterhalten«, sagte er.
»Ich möchte mich aber nicht mit dir unterhalten«, entgegnete ich. »Du bist ein Verräter.«
Die Wut war wieder dort, wo sie hingehörte: in Jeremys Augen. Er durchquerte das Zimmer und kam auf mich zu, bis wir Brust an Brust standen. Seine Nähe schien meinen Körper aufleuchten zu lassen. Er griff nach meinem Hinterkopf, und seine Finger verschwanden in meinem Haar. Seine Berührung war grob. Aber gleichzeitig zärtlich. Das war ein Widerspruch in sich.
Und sein Kuss fühlte sich genauso an.
Sein Mund öffnete den meinen.
Seine Zunge schmeckte meine.
Die Hitze zwischen uns war nuklear. Wir ließen einander schmelzen, verschmolzen ineinander, und dann …
Die Welt verschwand.
Das Zimmer verschwand.
Jeremy verschwand.
Und …
Ich öffnete die Augen auf dem Dach der Welt, auf dem Dach des Tower, und war dem Himmel nahe genug, um die Nacht berühren zu können. Auf dem Dach drängten sich Hunderte Rover, deren fieberhafte Energie die Luft zum Kochen brachte. Arme peitschten, Körper zuckten zum verrückten Rhythmus.
Ich stand im Zentrum des Chaos, und die jungen Apostel in Weiß links und rechts von mir hielten jeweils eine meiner Hände umklammert. Zu dreizehnt reichten wir uns die Hände und bildeten einen vollkommenen Kreis.
Jeremy sah mich an, und die Traurigkeit in seinen Augen hätte an meinem Herzen gezerrt, wenn ich in diesem Moment in der Lage gewesen wäre, irgendetwas zu empfinden außer der Euphorie, die die Vereinigung meines Lichts mit dem der anderen Apostel in mir auslöste.
»Die Macht liegt in unseren Händen«, psalmodierten wir. »Die Macht liegt in unseren Händen, und unsere Hände verrichten das Werk Gottes.«
Unsere Stimmen gingen in dem stampfenden Rhythmus unter, der aus den Lautsprechern dröhnte, und die Rover tanzten weiter, ohne sich dessen bewusst zu sein, was nahte.
Was bereits hier war.
Das Unwetter.
Die Luft hatte begonnen, sich zu verändern. Sich zu bewegen und zu verdicken. Ich roch Ozon und Wind und Rauch. Irgendetwas brannte. Ein elektrisches Feuer. Der Luftdruck sank. Wir wandten das Gesicht zum Himmel und sahen, wie sich schwarze Wolken zusammenbrauten, wo zuvor noch klare Nacht geherrscht hatte.
Mein Herz pumpte Feuer, und das Licht in den Wolken pulsierte im Takt mit meinem Herzschlag. Donner krachte – eine Explosion, von der die Musik der Rover übertönt wurde. Doch der Donner steigerte ihre Ekstase noch. Sie tanzten weiter, schrien in den Himmel, verhöhnten das Gewitter.
Ich blickte zu Jeremy und sah, dass er kein Teil des Kreises mehr war, sondern am Rand des Dachs stand. Plötzlich tauchte Prophet hinter ihm auf und hielt ihm ein silbernes Messer an den Hals. Dasselbe Messer, mit dem Jeremy in mein Zimmer gekommen war.
»Jeremy!«, schrie ich über die Bässe und den Donner hinweg. Ich wollte mich von den Aposteln losreißen, doch unsere Hände schienen miteinander verschmolzen zu sein. Miteinander verschweißt. Ich schrie Prophet an, während ich mit aller Kraft versuchte, mich aus dem Kreis zu lösen: »Lassen Sie ihn los!«
Prophet schüttelte den Kopf und zog die Mundwinkel traurig nach unten. »Er hat mich verraten. Ich habe ihn geliebt wie einen eigenen Sohn. Ich habe ihm vertraut, und er hat mich hintergangen.«
Ein Blitz tauchte den Himmel in blutrotes Licht.
Die Rover, die schließlich doch beeindruckt waren, schrien auf. Einen Moment lang war ich von dem Blitz geblendet. Dann blinzelte ich, und die Welt nahm wieder Farbe an. Ich blickte abermals zu Jeremy und sah rot. Zunächst glaubte ich, es handle sich nur um eine optische Nachwirkung des blutroten Blitzes. Aber nein, es war dunkler. Flüssig. Blut quoll aus einem tiefen Schnitt in Jeremys
Weitere Kostenlose Bücher