Die Auserwählte: Roman (German Edition)
Sicherheit vermittelt. Von Geborgenheit.« Er sah mir in die Augen. »Verstehst du jetzt, wie das ist? Was er mit deinen Gedanken machen kann?«
Ich nickte, und Jeremy holte tief Luft, ehe er fortfuhr.
»Am Anfang war das Leben bei Rance besser als alles, was ich bis dahin gekannt hatte. Sogar besser als bei meiner eigenen Mutter. Ich hatte zum ersten Mal eine Familie. Nicht nur eine Familie, sondern eine ganze Gemeinde von Leuten, die mich zu lieben schienen. Mein neues Leben drehte sich um Bibelstudien und um die Kirche des Lichts, doch das spielte keine Rolle für mich. Als ich dann ein bisschen älter wurde, veränderte sich die Situation. Ich fing an, die Dinge anders zu sehen. Vater interpretierte Bibelstellen auf merkwürdige Art und Weise. Er tendierte immer zu der Vorstellung, die Menschen auf dieser Welt würden etwa alle tausend Jahre so niederträchtig und so korrupt werden, dass sie nicht mehr zu retten seien und dass Gott keine andere Wahl bliebe, als irgendeine Art von Säuberung zu veranlassen, damit die Welt nicht zur Hölle wird. Das war auch früher schon passiert, mit Noah und der Sintflut. Die anderen in der Kirche, und vor allem meine adoptierten Brüder und Schwestern, hingen Vater an den Lippen. Ich wollte nicht abweichen, deshalb war ich lange Zeit still, aber irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Während einer von Vaters Predigten wagte ich es, ihm zu widersprechen.«
Er hielt inne, holte Luft und atmete wieder aus. »Das kam nicht gut an. Vater verstummte und schickte mich schließlich auf mein Zimmer. Dort blieb ich, bis er zu mir kam. Er sagte mir, dass ich ein Vorbild für die anderen sein müsse und dass ich seine Autorität untergraben habe, indem ich ihm widersprochen hatte. ›Das darf nicht wieder vorkommen‹, sagte er, und dann … dann gab er mir einen Segen, um meinen Glauben zu festigen.«
Mein Magen zog sich zusammen. Ich wusste, was gleich kommen würde. »Er hat dir eine Gehirnwäsche verpasst.«
»Das hatte er schon die ganze Zeit getan, auf unterschwellige Art und Weise, aber bis dahin war es mir nicht aufgefallen.«
»Und die Suggestionen funktionieren nur, wenn ein Teil von einem mitspielt.«
Er nickte abermals. »Ein Teil von mir hat mitgespielt. Ich wollte ein guter Sohn sein. Ich wollte seine Autorität nicht untergraben. Also hat er mir alle paar Tage einen Segen gegeben, und ich habe mich so verhalten, wie er es wollte.«
»Und wie hast du den Teufelskreis durchbrochen?«
Jeremy stützte die Ellbogen auf die Knie und legte den Kopf in die Hände, um seine Schläfen zu massieren. »Er hat mir von Anfang an gesagt, dass ich immer zu ihm kommen soll, wenn ich eine meiner Offenbarungen hatte, und ihm alles im Detail erzählen soll, und das habe ich auch getan. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits mit seiner Fernsehsendung begonnen, aber Die Stunde des Lichts fand erst dann Anklang, als er anfing, meine Offenbarungen zu benutzen. Für mich war das in Ordnung. Wir taten schließlich etwas Gutes. Religion war das perfekte Werkzeug, um zu kaschieren, was tatsächlich vor sich ging, und um die Leute dazu zu bringen zuzuhören. Und unsere Prophezeiungen haben Tausenden das Leben gerettet.«
Jeremy holte tief Luft und griff sich ins Gesicht, um seine Brille zurechtzurücken. Aber seine Brille – seine Verkleidung – war nicht da.
Er sah mich mit all der Traurigkeit und all der Wut an, die ein Mensch in sich haben kann, ohne den Verstand zu verlieren.
»Ich hatte eine Vision vom Puente-Hills-Beben. Ich sah über dem Stadtzentrum ein Gewitter am Himmel aufziehen, Blitze schlugen in den Boden ein, und dann begann alles zu beben, und alle … alle hohen Gebäude bis auf eines stürzten ein.«
Meine Atmung verlangsamte sich. Ich nickte.
»Das habe ich eine Woche vor dem Erdbeben gesehen.«
36
I ch brauchte einen Moment, bis ich meine Stimme wiederfand. »Aber Prophet hat nicht vor dem Beben gewarnt, bis …«
»Bis es zu spät war.« Jeremys ganzer Körper war verkrampft und zitterte vor Wut, als würde er sein ganz persönliches Erdbeben erleben. »Nachdem ich aus der Vision erwacht war, bin ich sofort zu Vater gegangen, um ihm zu erzählen, was ich gesehen hatte. Ich habe ihn aufgefordert, zuerst den Bürgermeister zu informieren, bevor er es in der Stunde des Lichts verkündet, damit die Stadt mit der Evakuierung beginnen kann. Er hat eingewilligt, den Anruf zu tätigen, wollte mir zuvor aber erst noch einen Segen geben. Ich war aufgebracht, und er
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