Die Auserwählte: Roman (German Edition)
Hals, und das Messer in Prophets Hand war jetzt nicht mehr silberfarben, sondern rot. Ich schrie, brach aus dem Kreis aus und rannte auf Jeremy zu, während um uns Blitze den Himmel zerbersten ließen und die Welt aufbrachen wie eine Eierschale. Überall war Blut. Unendlich viel Blut.
»Das ist das Ende«, verkündete Prophet. »Jetzt beginnen wir von Neuem.«
Prophet hob Jeremy auf, der den Blick nicht von mir löste, bis Prophet ihn vom Dach des Tower warf.
»Nein!« Ich kam am Rand des Dachs an und sah Jeremy fallen, während um ihn Blitze durch die Luft zuckten. Weit unter uns schlugen Blitze in den Boden ein – rote verzweigte Glut, die in die Spalten im Erdreich schoss, die das Beben aufgebrochen hatte. Dann begann die Welt heftig zu erzittern, und das Zittern steigerte sich zu Erdstößen. Der Tower fing zu schwanken an, bis er in sich zusammenbrach und zu Boden stürzte. Das Gewitter tobte weiter, hämmerte mit Blitzen auf den Boden ein. Mir war bewusst, dass ich all das ausgelöst hatte, doch ich konnte es nicht stoppen.
Es war zu spät.
Das war das Ende.
Ich spürte ein Schnappen in meinem Schädel, als wäre etwas zu stark gedehnt worden und gerissen. Der Schmerz war enorm, als würden meine beiden Gehirnhälften auseinandergezerrt werden. Ich legte den Kopf in die Hände und schloss die Augen. Auf der Innenseite meiner Augenlider sah ich nach wie vor Blitze als rote Feueradern. Ich presste die Finger auf meine Schläfen, öffnete die Augen und stellte fest, dass ich noch immer in Jeremys Armen lag. Sein Mund war so nah an meinem, dass ich seinen warmen Atem spürte. Er hatte die Hände in meinem Haar, und sein Kuss verweilte heiß auf meinen Lippen. Die Vision hatte jedoch geendet.
Mein Kopf war klar.
Die alte Mia war wieder da. Jeremy hatte sie mit einem Kuss und einem Albtraum geweckt. Der innere Friede, den Prophet mir zugesichert hatte, war verschwunden, abgelöst von Furcht und Hass und Wut und Verzweiflung, die mich ausfüllten, bis ich glaubte, ihr Druck würde mich platzen lassen. Ich schloss abermals die Augen und vergrub das Gesicht in Jeremys Brust. Jeremy hielt mich und drückte mich so fest an sich, dass es beinahe schmerzte. Irgendwann bugsierte er mich zum Bett und setzte mich neben sich. Er hatte nach wie vor den Arm um mich gelegt, und seine Hitze drang in mich ein wie Sonnenlicht, brachte aber keine weiteren Visionen mit.
»Du bist gestorben«, sagte ich mit rauer Stimme. »Er hat dich getötet. Dein Vater hat dich getötet.«
»Ich weiß«, entgegnete Jeremy.
»Das darf nicht passieren!«
»Psst. Das wird es nicht.«
»Aber es ist passiert! Ich habe es gesehen! Er wird die Wahrheit herausfinden!« Und was war die Wahrheit? Ich erkannte sie, während ich sprach. »Er wird herausfinden, dass du ihn hintergangen hast. Dass du versucht hast, mich von ihm fernzuhalten, anstatt mich zu ihm zu bringen.«
»Nein, das wird er nicht. Nicht mehr.«
»Warum nicht?«
Er drehte den Kopf weg. »Weil du es ihm nicht sagen wirst.«
»Nein … das hätte ich niemals getan.« Ich schüttelte den Kopf, wusste es jedoch insgeheim besser. Letzten Endes hätte ich Prophet gesagt, dass Jeremy ein Verräter war.
Aber es gab noch immer so viel, das ich nicht verstand. Wie war Jeremy zu einem Apostel geworden? Wann hatte er sich gegen Prophet gewandt, und wie hatte er sich dessen Einfluss entzogen? Wie war es ihm gelungen, vor Prophet zu verheimlichen, dass er der Judas unter den Aposteln war? Und, was mich am meisten verwirrte, warum hatte Prophet die Wahrheit nicht in unseren Gedanken gelesen?
Die Liste mit Fragen war endlos lang. Mir war nicht bewusst, dass ich sie laut aussprach, bis Jeremy die Hände hob.
»Wir haben nicht viel Zeit. Die anderen werden sich fragen, was ich mache, wenn ich nicht bald wieder nach unten gehe.«
»Sie trauen dir nicht«, mutmaßte ich.
Jeremy wollte seine Brille zurechtrücken, doch dann wurde ihm bewusst, dass er sie gar nicht trug. Ich hatte es immer lächerlich gefunden, dass niemand Clark Kent erkannte, wenn er Superman war. Nachdem ich selbst auf eine derart simple Verkleidung hereingefallen war, erschien es mir jetzt nicht mehr so lächerlich. Kein Wunder, dass Mom ihren Blick auf Jeremy geheftet hatte, als sie ihn durchs Fenster gesehen hatte. Und kein Wunder, dass er mich nur widerwillig zu der Erweckung begleitet hatte. Aber er hatte es getan. Für mich. Weil er mich nur daran hätte hindern können, wenn er mich getötet hätte.
Vielleicht wäre
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